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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Aus Berlin-
I.

Volksliteratur. -- Eckensteherwitze. - Skizzen von Tränket und Köppe". --
Das Standbild Friedrich's Wilhelm IN. -

Den Umschwung, welchen Berlin in seinen innern Verhältnissen
nimmt, bemerkt man auch an der ihm eigenthümlichen, specifisch-berlini¬
schen Literatur. Die Literatur wird aber auch hier der Ausdruck und
der Gradmesser des Lebens. Es gab eine Zeit, als die specifisch-berli¬
nische Literatur aus sogenannten Eckensteherwitzen bestand und als Glas¬
brenner der Held dieser Literatur war. Der Weinhändler Duncker reprä-
sentirte diese berlinische Richtung auf den Bierbänken und in den Knei¬
pen. Auswärts war durch Glasbrenner u. f. w. der berliner "Ecken¬
steher" zu einem ungeheuern, bewunderungswürdigen Mythos emporge¬
wachsen, man riß sich um die kleinen fliegenden Blätter, in denen Fritze
und Lüde mit einander witzelten, man glaubte durch sie einen richtigen
Blick in das eigenthümliche Berlin zu thun. Diese ganze Richtung ist
aber allmälig zerfallen. Wenn nicht Pückler erklärte, daß er verstohlener
Weise auch einmal in die glasbrenner'schen Bilder hineingeguckt habe,
so interessiren sich jetzt doch höchstens noch zurückgebliebene Landbewohner
und Kleinstädter, sowie unsere Ladendiener dafür. Diese ganze Richtung
hatte durchaus keinen wahren, menschlichen Inhalt, sie war die frivole
Richtung einer abstracten, sich selbst befriedigenden Witzelei. Der berliner
Proletarier wurde in ihr nicht als berechtigter Mensch betrachtet, er galt
nur als Harlequin. Dem Volksnaturell, seiner Bedeutung, seiner Ent¬
wickelung wurde nicht auf den Grund gegangen, man hing es eben nur
als einen bunten Lappen in einem Puppentheater auf. Je mehr sich nun
die sociale Richtung ausbildete, je entschiedener sie die Berechtigung des
Menschen forderte und je umfassender sie auch die berlinischen Social¬
zustände in den Kreis ihrer Beobachtungen und Prüfungen zog, um so
schneller mußte die inhaltslose berliner Eckensteherliteratur zusammenstür¬
zen und einer bei Weitem tiefern, nicht einen leeren Wortwitz, sondern
einen großen, allgemeinen Zweck anstrebenden literarischen Richtung Platz
machen. Das ist denn auch vollständig geschehen. Wie das berlinische
Volk in den letzten Jahren ernster geworden ist, so hat auch die specifisch-
berlinische Literatur einen ernstern Charakter angenommen. Als specifisch-
berlinisch erscheint uns aber diejenige Literatur, welche eben die Erfor¬
schung, die Prüfung und die Darstellung der Socialzustände, wie sie sich
in Berlin nach allgemeinen und localen Bedingungen ausgebildet haben,
zu ihrem Zwecke gemacht hat. Unter diesen Literaturerscheinungen darf
ganz besonders auf die berliner Skizzen, Bilder und Charakteristiken
aus dem Leben der Gesellschaft von Albert Fränkel und Ludwig Koppen
(Berlin bei Ries)" aufmerksam gemacht werden. In diesen Skizzen,
von denen uns gegenwärtig zwei Bände vorliegen, tritt uns die entschie-


II
Aus Berlin-
I.

Volksliteratur. — Eckensteherwitze. - Skizzen von Tränket und Köppe». —
Das Standbild Friedrich's Wilhelm IN. -

Den Umschwung, welchen Berlin in seinen innern Verhältnissen
nimmt, bemerkt man auch an der ihm eigenthümlichen, specifisch-berlini¬
schen Literatur. Die Literatur wird aber auch hier der Ausdruck und
der Gradmesser des Lebens. Es gab eine Zeit, als die specifisch-berli¬
nische Literatur aus sogenannten Eckensteherwitzen bestand und als Glas¬
brenner der Held dieser Literatur war. Der Weinhändler Duncker reprä-
sentirte diese berlinische Richtung auf den Bierbänken und in den Knei¬
pen. Auswärts war durch Glasbrenner u. f. w. der berliner „Ecken¬
steher" zu einem ungeheuern, bewunderungswürdigen Mythos emporge¬
wachsen, man riß sich um die kleinen fliegenden Blätter, in denen Fritze
und Lüde mit einander witzelten, man glaubte durch sie einen richtigen
Blick in das eigenthümliche Berlin zu thun. Diese ganze Richtung ist
aber allmälig zerfallen. Wenn nicht Pückler erklärte, daß er verstohlener
Weise auch einmal in die glasbrenner'schen Bilder hineingeguckt habe,
so interessiren sich jetzt doch höchstens noch zurückgebliebene Landbewohner
und Kleinstädter, sowie unsere Ladendiener dafür. Diese ganze Richtung
hatte durchaus keinen wahren, menschlichen Inhalt, sie war die frivole
Richtung einer abstracten, sich selbst befriedigenden Witzelei. Der berliner
Proletarier wurde in ihr nicht als berechtigter Mensch betrachtet, er galt
nur als Harlequin. Dem Volksnaturell, seiner Bedeutung, seiner Ent¬
wickelung wurde nicht auf den Grund gegangen, man hing es eben nur
als einen bunten Lappen in einem Puppentheater auf. Je mehr sich nun
die sociale Richtung ausbildete, je entschiedener sie die Berechtigung des
Menschen forderte und je umfassender sie auch die berlinischen Social¬
zustände in den Kreis ihrer Beobachtungen und Prüfungen zog, um so
schneller mußte die inhaltslose berliner Eckensteherliteratur zusammenstür¬
zen und einer bei Weitem tiefern, nicht einen leeren Wortwitz, sondern
einen großen, allgemeinen Zweck anstrebenden literarischen Richtung Platz
machen. Das ist denn auch vollständig geschehen. Wie das berlinische
Volk in den letzten Jahren ernster geworden ist, so hat auch die specifisch-
berlinische Literatur einen ernstern Charakter angenommen. Als specifisch-
berlinisch erscheint uns aber diejenige Literatur, welche eben die Erfor¬
schung, die Prüfung und die Darstellung der Socialzustände, wie sie sich
in Berlin nach allgemeinen und localen Bedingungen ausgebildet haben,
zu ihrem Zwecke gemacht hat. Unter diesen Literaturerscheinungen darf
ganz besonders auf die berliner Skizzen, Bilder und Charakteristiken
aus dem Leben der Gesellschaft von Albert Fränkel und Ludwig Koppen
(Berlin bei Ries)" aufmerksam gemacht werden. In diesen Skizzen,
von denen uns gegenwärtig zwei Bände vorliegen, tritt uns die entschie-


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[0580] II Aus Berlin- I. Volksliteratur. — Eckensteherwitze. - Skizzen von Tränket und Köppe». — Das Standbild Friedrich's Wilhelm IN. - Den Umschwung, welchen Berlin in seinen innern Verhältnissen nimmt, bemerkt man auch an der ihm eigenthümlichen, specifisch-berlini¬ schen Literatur. Die Literatur wird aber auch hier der Ausdruck und der Gradmesser des Lebens. Es gab eine Zeit, als die specifisch-berli¬ nische Literatur aus sogenannten Eckensteherwitzen bestand und als Glas¬ brenner der Held dieser Literatur war. Der Weinhändler Duncker reprä- sentirte diese berlinische Richtung auf den Bierbänken und in den Knei¬ pen. Auswärts war durch Glasbrenner u. f. w. der berliner „Ecken¬ steher" zu einem ungeheuern, bewunderungswürdigen Mythos emporge¬ wachsen, man riß sich um die kleinen fliegenden Blätter, in denen Fritze und Lüde mit einander witzelten, man glaubte durch sie einen richtigen Blick in das eigenthümliche Berlin zu thun. Diese ganze Richtung ist aber allmälig zerfallen. Wenn nicht Pückler erklärte, daß er verstohlener Weise auch einmal in die glasbrenner'schen Bilder hineingeguckt habe, so interessiren sich jetzt doch höchstens noch zurückgebliebene Landbewohner und Kleinstädter, sowie unsere Ladendiener dafür. Diese ganze Richtung hatte durchaus keinen wahren, menschlichen Inhalt, sie war die frivole Richtung einer abstracten, sich selbst befriedigenden Witzelei. Der berliner Proletarier wurde in ihr nicht als berechtigter Mensch betrachtet, er galt nur als Harlequin. Dem Volksnaturell, seiner Bedeutung, seiner Ent¬ wickelung wurde nicht auf den Grund gegangen, man hing es eben nur als einen bunten Lappen in einem Puppentheater auf. Je mehr sich nun die sociale Richtung ausbildete, je entschiedener sie die Berechtigung des Menschen forderte und je umfassender sie auch die berlinischen Social¬ zustände in den Kreis ihrer Beobachtungen und Prüfungen zog, um so schneller mußte die inhaltslose berliner Eckensteherliteratur zusammenstür¬ zen und einer bei Weitem tiefern, nicht einen leeren Wortwitz, sondern einen großen, allgemeinen Zweck anstrebenden literarischen Richtung Platz machen. Das ist denn auch vollständig geschehen. Wie das berlinische Volk in den letzten Jahren ernster geworden ist, so hat auch die specifisch- berlinische Literatur einen ernstern Charakter angenommen. Als specifisch- berlinisch erscheint uns aber diejenige Literatur, welche eben die Erfor¬ schung, die Prüfung und die Darstellung der Socialzustände, wie sie sich in Berlin nach allgemeinen und localen Bedingungen ausgebildet haben, zu ihrem Zwecke gemacht hat. Unter diesen Literaturerscheinungen darf ganz besonders auf die berliner Skizzen, Bilder und Charakteristiken aus dem Leben der Gesellschaft von Albert Fränkel und Ludwig Koppen (Berlin bei Ries)" aufmerksam gemacht werden. In diesen Skizzen, von denen uns gegenwärtig zwei Bände vorliegen, tritt uns die entschie-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/580>, abgerufen am 24.11.2024.