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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Ein Wort über unsere Bühnenzerrtssenheit.
Bon CH-...N.

Mehr als früher sind in letzterer Aelt die Blicke und Bestrebungen
dem deutschen Theater zugewendet, man erwartet jeden Tag, jeden Abend,
wo ein neues Stück in Scene geht: Jetzt kommt's, jetzt muß der ent¬
scheidende Schlag geschehen! Um die Stimmung gehörig vorzubereiten
und die etwas erregte in der gehörigen Temperatur zu halten, hat man
sogar angefangen, von dem Theater als von einem "neuen Nationalin¬
stitut" zu sprechen, sowie von den großen Einflüssen, welche dasselbe auf
Gesellschaft und Civilisation auszuüben, allerdings berufen sei. Allein wir
Deutschen sind einmal das merkwürdige Volk, welches mehr den Reden
und Redensarten als Thaten lebt, reicher an Behauptungen als an Be¬
weisen, und so ist man uns denn bisher auch für das "Nationalinsti¬
tut" und für die großen socialen Einflüsse alle und jede Beweise schul¬
dig geblieben, da sich im Gegentheil eher Beweise für die Einwirkung
der Gesellschaft auf das Theater beibringen und durchführen ließen. Der
Schade liegt tiefer, als daß er durch theoretische Palliative gehoben wer¬
den könnte und charakteristisch ist es, daß wir auch hier durch die Theorie
das Gute erringen wollen. Der Franzose hat in den letzten fruchtbaren
Jahren seiner Bühne nichts von einem eigentlichen Dramaturgen und
von einer Dramaturgie als Canon und Codex wissen wollen, und doch
gedieh sein Theater an sich immer viel besser als das unsrige. Die ganze
französische Dramaturgie der letztern zwanzig Jahre bestand in den Gegen¬
sätzen und Reibungen der Classik und Romantik, der orthodoxen und ra¬
tionalen Aesthetik. Die überlieferten Bühncnregeln collidirten mit den
Lebensregeln, und wie das Leben in neuen Formen aus dem Volke sich
Hervorrang, so gleichzeitig auch das Theater und die dramatische Poesie.

Und dennoch stehen auch wir Deutschen jetzt am Vorabende neuer
Ereignisse, und dennoch hat man Grund und Recht, bedeutende Inten¬
danzen und Dramaturgen anzustellen, nur zu andern Zwecken als den er¬
läuterten, nur zu andern Pflichten, als zu denen, die die Tradition ih¬
nen zugetheilt hat. Sie werden nämlich dazu berufen sein, zu erdich¬
ten, was zu erdichten ist, wenn die Erplosion vor sich geht, wenn der
Dampfkessel dieser gegenwärtigen Bühnenmaschine zerspringt und die Fol¬
gen des bisherigen Systems augenscheinlich den materiellen Fall oder
"Bankerott" herbeiführen.


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Ein Wort über unsere Bühnenzerrtssenheit.
Bon CH-...N.

Mehr als früher sind in letzterer Aelt die Blicke und Bestrebungen
dem deutschen Theater zugewendet, man erwartet jeden Tag, jeden Abend,
wo ein neues Stück in Scene geht: Jetzt kommt's, jetzt muß der ent¬
scheidende Schlag geschehen! Um die Stimmung gehörig vorzubereiten
und die etwas erregte in der gehörigen Temperatur zu halten, hat man
sogar angefangen, von dem Theater als von einem „neuen Nationalin¬
stitut" zu sprechen, sowie von den großen Einflüssen, welche dasselbe auf
Gesellschaft und Civilisation auszuüben, allerdings berufen sei. Allein wir
Deutschen sind einmal das merkwürdige Volk, welches mehr den Reden
und Redensarten als Thaten lebt, reicher an Behauptungen als an Be¬
weisen, und so ist man uns denn bisher auch für das „Nationalinsti¬
tut" und für die großen socialen Einflüsse alle und jede Beweise schul¬
dig geblieben, da sich im Gegentheil eher Beweise für die Einwirkung
der Gesellschaft auf das Theater beibringen und durchführen ließen. Der
Schade liegt tiefer, als daß er durch theoretische Palliative gehoben wer¬
den könnte und charakteristisch ist es, daß wir auch hier durch die Theorie
das Gute erringen wollen. Der Franzose hat in den letzten fruchtbaren
Jahren seiner Bühne nichts von einem eigentlichen Dramaturgen und
von einer Dramaturgie als Canon und Codex wissen wollen, und doch
gedieh sein Theater an sich immer viel besser als das unsrige. Die ganze
französische Dramaturgie der letztern zwanzig Jahre bestand in den Gegen¬
sätzen und Reibungen der Classik und Romantik, der orthodoxen und ra¬
tionalen Aesthetik. Die überlieferten Bühncnregeln collidirten mit den
Lebensregeln, und wie das Leben in neuen Formen aus dem Volke sich
Hervorrang, so gleichzeitig auch das Theater und die dramatische Poesie.

Und dennoch stehen auch wir Deutschen jetzt am Vorabende neuer
Ereignisse, und dennoch hat man Grund und Recht, bedeutende Inten¬
danzen und Dramaturgen anzustellen, nur zu andern Zwecken als den er¬
läuterten, nur zu andern Pflichten, als zu denen, die die Tradition ih¬
nen zugetheilt hat. Sie werden nämlich dazu berufen sein, zu erdich¬
ten, was zu erdichten ist, wenn die Erplosion vor sich geht, wenn der
Dampfkessel dieser gegenwärtigen Bühnenmaschine zerspringt und die Fol¬
gen des bisherigen Systems augenscheinlich den materiellen Fall oder
„Bankerott" herbeiführen.


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[0538] T a g e b u es. i Ein Wort über unsere Bühnenzerrtssenheit. Bon CH-...N. Mehr als früher sind in letzterer Aelt die Blicke und Bestrebungen dem deutschen Theater zugewendet, man erwartet jeden Tag, jeden Abend, wo ein neues Stück in Scene geht: Jetzt kommt's, jetzt muß der ent¬ scheidende Schlag geschehen! Um die Stimmung gehörig vorzubereiten und die etwas erregte in der gehörigen Temperatur zu halten, hat man sogar angefangen, von dem Theater als von einem „neuen Nationalin¬ stitut" zu sprechen, sowie von den großen Einflüssen, welche dasselbe auf Gesellschaft und Civilisation auszuüben, allerdings berufen sei. Allein wir Deutschen sind einmal das merkwürdige Volk, welches mehr den Reden und Redensarten als Thaten lebt, reicher an Behauptungen als an Be¬ weisen, und so ist man uns denn bisher auch für das „Nationalinsti¬ tut" und für die großen socialen Einflüsse alle und jede Beweise schul¬ dig geblieben, da sich im Gegentheil eher Beweise für die Einwirkung der Gesellschaft auf das Theater beibringen und durchführen ließen. Der Schade liegt tiefer, als daß er durch theoretische Palliative gehoben wer¬ den könnte und charakteristisch ist es, daß wir auch hier durch die Theorie das Gute erringen wollen. Der Franzose hat in den letzten fruchtbaren Jahren seiner Bühne nichts von einem eigentlichen Dramaturgen und von einer Dramaturgie als Canon und Codex wissen wollen, und doch gedieh sein Theater an sich immer viel besser als das unsrige. Die ganze französische Dramaturgie der letztern zwanzig Jahre bestand in den Gegen¬ sätzen und Reibungen der Classik und Romantik, der orthodoxen und ra¬ tionalen Aesthetik. Die überlieferten Bühncnregeln collidirten mit den Lebensregeln, und wie das Leben in neuen Formen aus dem Volke sich Hervorrang, so gleichzeitig auch das Theater und die dramatische Poesie. Und dennoch stehen auch wir Deutschen jetzt am Vorabende neuer Ereignisse, und dennoch hat man Grund und Recht, bedeutende Inten¬ danzen und Dramaturgen anzustellen, nur zu andern Zwecken als den er¬ läuterten, nur zu andern Pflichten, als zu denen, die die Tradition ih¬ nen zugetheilt hat. Sie werden nämlich dazu berufen sein, zu erdich¬ ten, was zu erdichten ist, wenn die Erplosion vor sich geht, wenn der Dampfkessel dieser gegenwärtigen Bühnenmaschine zerspringt und die Fol¬ gen des bisherigen Systems augenscheinlich den materiellen Fall oder „Bankerott" herbeiführen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/538>, abgerufen am 27.11.2024.