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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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zuthun suchte; gegenwärtig aber ziehen sie sich immer mehr in's Neue
hinein. Am meisten drückt mich schon einige Zeit, Ihr Schuldner zu
sein, und das will ich denn auch nicht länger tragen. Zwar könnte
ich zu meiner Rechtfertigung aufrichtig versichern, daß ich gerade, weil
Sie und Ihre theure Schwester mir immer gegenwärtig waren, am
wenigsten dazu gelangen konnte, Ihnen zu schreiben. Ich brauche
Ihnen nicht zu versichern, wie nahe es mir geht, die verehrte Kranke
in einem solchen peinlichen Zustand zu wissen, und wie ich von einer
doppelten Empfindung hin und wieder gezogen werde, indem ich ein¬
mal zu erfahren wünsche, wie sie sich befindet, und sodann wieder be¬
fürchten muß, von einem schlimmern und gefährlichern Zustand unter¬
richtet zu werden. Auf diese Weise, darf ich wohl sagen, bin ich immer
um Sie beide beschäftigt, und wenn mir der Ort anschaulich wäre,
wo Sie sich befinden, so würde an der wirklichen Gegenwart wenig
fehlen. Lassen Sie jedoch, beste Freundin, mich es nicht entgelten, und
geben Sie mir bald Nachricht von einem Zustande, der mich so sehr
interesstrt. Empfehlen Sie mich der theuren Leidenden auf das beste,
und haben Sie tausend Dank, daß Sie so treulich die Stelle so vieler
abwesend Theilnehmenden vertreten.

Von mir habe ich wenig zu sagen, wenn ich auch wollte. Das
tägliche äußere Leben verschlingt das innere dauernde, und keins von
beiden will seine Rechte fahren lassen; worüber denn beinahe alle beide
verloren gehen.

Sie fragen, meine Beste, nach dem Trauerspiel Jephtha. Es ist
damit eine eigene Sache. Wir haben es mit großer Sorgfalt vorge¬
stellt, aber es nicht über die zweite Repräsentation gebracht, und ich
glaube nicht, daß es sich auf dem Repertorium halten wird. Die Ur¬
sache davon liegt darin, daß ein gebildetes Publicum wie das unsere,
das alle bedeutenden Stücke sehr genau kennt, dem Verfasser des
Jephtha gar zu leicht nachkommen kann, wo er seine Gestalten, seine
Situationen und Gesinnungen herbae; und doch geht es mit den drei
ersten Acten noch so ziemlich. Da man aber in dem vierten auf eine
unangenehme Weise an Lear erinnert wird, und im fünften ein ver¬
geblicher Pomp nur zerstreuend wirkt; so will das Stück niemals bis
um'ö Ende die Zuschauer festhalten, obgleich die Verse ganz gut sind,
und eigentlich nichts Ueberflüssiges sich in der Ausführung befindet;
weshalb es mir auch im Lesen ganz wohl gefiel.

Soll ich aufrichtig sein, so hat das Stück noch einen Fehler, der
tiefer liegt, nicht leicht erkannt, aber durchaus empfunden wird? eS ist


zuthun suchte; gegenwärtig aber ziehen sie sich immer mehr in's Neue
hinein. Am meisten drückt mich schon einige Zeit, Ihr Schuldner zu
sein, und das will ich denn auch nicht länger tragen. Zwar könnte
ich zu meiner Rechtfertigung aufrichtig versichern, daß ich gerade, weil
Sie und Ihre theure Schwester mir immer gegenwärtig waren, am
wenigsten dazu gelangen konnte, Ihnen zu schreiben. Ich brauche
Ihnen nicht zu versichern, wie nahe es mir geht, die verehrte Kranke
in einem solchen peinlichen Zustand zu wissen, und wie ich von einer
doppelten Empfindung hin und wieder gezogen werde, indem ich ein¬
mal zu erfahren wünsche, wie sie sich befindet, und sodann wieder be¬
fürchten muß, von einem schlimmern und gefährlichern Zustand unter¬
richtet zu werden. Auf diese Weise, darf ich wohl sagen, bin ich immer
um Sie beide beschäftigt, und wenn mir der Ort anschaulich wäre,
wo Sie sich befinden, so würde an der wirklichen Gegenwart wenig
fehlen. Lassen Sie jedoch, beste Freundin, mich es nicht entgelten, und
geben Sie mir bald Nachricht von einem Zustande, der mich so sehr
interesstrt. Empfehlen Sie mich der theuren Leidenden auf das beste,
und haben Sie tausend Dank, daß Sie so treulich die Stelle so vieler
abwesend Theilnehmenden vertreten.

Von mir habe ich wenig zu sagen, wenn ich auch wollte. Das
tägliche äußere Leben verschlingt das innere dauernde, und keins von
beiden will seine Rechte fahren lassen; worüber denn beinahe alle beide
verloren gehen.

Sie fragen, meine Beste, nach dem Trauerspiel Jephtha. Es ist
damit eine eigene Sache. Wir haben es mit großer Sorgfalt vorge¬
stellt, aber es nicht über die zweite Repräsentation gebracht, und ich
glaube nicht, daß es sich auf dem Repertorium halten wird. Die Ur¬
sache davon liegt darin, daß ein gebildetes Publicum wie das unsere,
das alle bedeutenden Stücke sehr genau kennt, dem Verfasser des
Jephtha gar zu leicht nachkommen kann, wo er seine Gestalten, seine
Situationen und Gesinnungen herbae; und doch geht es mit den drei
ersten Acten noch so ziemlich. Da man aber in dem vierten auf eine
unangenehme Weise an Lear erinnert wird, und im fünften ein ver¬
geblicher Pomp nur zerstreuend wirkt; so will das Stück niemals bis
um'ö Ende die Zuschauer festhalten, obgleich die Verse ganz gut sind,
und eigentlich nichts Ueberflüssiges sich in der Ausführung befindet;
weshalb es mir auch im Lesen ganz wohl gefiel.

Soll ich aufrichtig sein, so hat das Stück noch einen Fehler, der
tiefer liegt, nicht leicht erkannt, aber durchaus empfunden wird? eS ist


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[0518] zuthun suchte; gegenwärtig aber ziehen sie sich immer mehr in's Neue hinein. Am meisten drückt mich schon einige Zeit, Ihr Schuldner zu sein, und das will ich denn auch nicht länger tragen. Zwar könnte ich zu meiner Rechtfertigung aufrichtig versichern, daß ich gerade, weil Sie und Ihre theure Schwester mir immer gegenwärtig waren, am wenigsten dazu gelangen konnte, Ihnen zu schreiben. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, wie nahe es mir geht, die verehrte Kranke in einem solchen peinlichen Zustand zu wissen, und wie ich von einer doppelten Empfindung hin und wieder gezogen werde, indem ich ein¬ mal zu erfahren wünsche, wie sie sich befindet, und sodann wieder be¬ fürchten muß, von einem schlimmern und gefährlichern Zustand unter¬ richtet zu werden. Auf diese Weise, darf ich wohl sagen, bin ich immer um Sie beide beschäftigt, und wenn mir der Ort anschaulich wäre, wo Sie sich befinden, so würde an der wirklichen Gegenwart wenig fehlen. Lassen Sie jedoch, beste Freundin, mich es nicht entgelten, und geben Sie mir bald Nachricht von einem Zustande, der mich so sehr interesstrt. Empfehlen Sie mich der theuren Leidenden auf das beste, und haben Sie tausend Dank, daß Sie so treulich die Stelle so vieler abwesend Theilnehmenden vertreten. Von mir habe ich wenig zu sagen, wenn ich auch wollte. Das tägliche äußere Leben verschlingt das innere dauernde, und keins von beiden will seine Rechte fahren lassen; worüber denn beinahe alle beide verloren gehen. Sie fragen, meine Beste, nach dem Trauerspiel Jephtha. Es ist damit eine eigene Sache. Wir haben es mit großer Sorgfalt vorge¬ stellt, aber es nicht über die zweite Repräsentation gebracht, und ich glaube nicht, daß es sich auf dem Repertorium halten wird. Die Ur¬ sache davon liegt darin, daß ein gebildetes Publicum wie das unsere, das alle bedeutenden Stücke sehr genau kennt, dem Verfasser des Jephtha gar zu leicht nachkommen kann, wo er seine Gestalten, seine Situationen und Gesinnungen herbae; und doch geht es mit den drei ersten Acten noch so ziemlich. Da man aber in dem vierten auf eine unangenehme Weise an Lear erinnert wird, und im fünften ein ver¬ geblicher Pomp nur zerstreuend wirkt; so will das Stück niemals bis um'ö Ende die Zuschauer festhalten, obgleich die Verse ganz gut sind, und eigentlich nichts Ueberflüssiges sich in der Ausführung befindet; weshalb es mir auch im Lesen ganz wohl gefiel. Soll ich aufrichtig sein, so hat das Stück noch einen Fehler, der tiefer liegt, nicht leicht erkannt, aber durchaus empfunden wird? eS ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/518>, abgerufen am 23.07.2024.