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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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hier indeß wohl schwerlich einen entscheidenden Einfluß, und viel mehr
das mehr oder weniger gedrängte Zusammenwohnen, wie wir zeigen
werdem Dieser Umstand aber gibt anscheinend den evangelischen Pro¬
vinzen als solchen ein Uebergewicht in dem Vorkommen der fleisch¬
lichen Verbrechen, in sofern, als die compacteste evangelische Bevölke¬
rung zufällig auch grade diejenige ist, die am dichtesten in Städten
zusammen lebt. Nur allein in Beziehung auf den Ehebruch, der zu
den fleischlichen Verbrechen des Strafrechts gezählt wird, dürfte das
verschiedene religiöse Bekenntniß in Betracht kommen, und es ist wohl
keine unbegründete Annahme, daß jenes Mehr in den evangelischen
Provinzen zum Theil mit auf Rechnung häufigerer Ehescheidungskla¬
gen wegen angeblichen oder wirklichen Ehebruchs zu setzen sein dürfte.
Im Uebrigen ist zu beachten, daß die Häufigkeit oder Seltenheit von
vor Gericht gebrachten Fällen fleischlicher Verbrechen für die Beur¬
theilung des sittlichen Zustandes in einer Bevölkerung nur mit grö߬
ter Vorsicht gewürdigt werden darf. Das Ländchen Lippe ^Detmold,
das nicht in dem Geruch steht, sich durch große Sittenverderbniß aus-
zuzeichnen, hatte von 1826--1828 durchschnittlich alljährlich drei Cri-
minaluntersuchungen wegen fleischlicher Verbrechen, während das ganze
Königreich Baiern im Jahre 1828 deren nur zwei zählte, ein Land,
dessen Hauptstadt mehr uneheliche Kinder alljährlich in die Welt setzt,
als selbst Paris. "Allein eben die Seltenheit dieser Processe," sagt
Mittermai er, "muß als ein Beweis vermehrter Unsittlichkeit gel¬
ten, wenn sie auch als Zeichen des Fortschreitens der Civilisation er¬
scheinen mag, die freilich mit solchen Fleischesverbrechen und Liebes¬
verhältnissen es leicht nimmt, witzig darüber zu scherzen lehrt, in den
geselligen Verhältnissen freundlich den oft liebenswürdigen Verbrecher
aufnimmt, und eS zuletzt so weit bringt, daß der beleidigte Ehegatte
lieber schweigt, weil er entweder den gefälligen Gatten spielt, um auch
sich desto leichter entschädigen zu dürfen, oder weil er fürchten muß,
von der Menge verspottet zu werden, wenn er dergleichen Verhältnisse
durch eine gerichtliche Klage öffentlich macht. Es liegt eine Art von
Hohn gegen die Strafjustiz in der Erfahrung --, daß in ganz Frank¬
reich, bei einer Bevölkerung von 3l Millionen, nur 57 Ehebruchsfälle
zur Untersuchung kommen.

Ungemein weniger als bei den Evangelischen kommen bei den
Katholiken die Selbstmorde vor (90 weniger auf eine Million); diese
Thatsache ist nicht neu und ich selbst habe sie bereits vor 20 Jahren
grade auch für die Provinzen des preußischen Staates, in denen sie


hier indeß wohl schwerlich einen entscheidenden Einfluß, und viel mehr
das mehr oder weniger gedrängte Zusammenwohnen, wie wir zeigen
werdem Dieser Umstand aber gibt anscheinend den evangelischen Pro¬
vinzen als solchen ein Uebergewicht in dem Vorkommen der fleisch¬
lichen Verbrechen, in sofern, als die compacteste evangelische Bevölke¬
rung zufällig auch grade diejenige ist, die am dichtesten in Städten
zusammen lebt. Nur allein in Beziehung auf den Ehebruch, der zu
den fleischlichen Verbrechen des Strafrechts gezählt wird, dürfte das
verschiedene religiöse Bekenntniß in Betracht kommen, und es ist wohl
keine unbegründete Annahme, daß jenes Mehr in den evangelischen
Provinzen zum Theil mit auf Rechnung häufigerer Ehescheidungskla¬
gen wegen angeblichen oder wirklichen Ehebruchs zu setzen sein dürfte.
Im Uebrigen ist zu beachten, daß die Häufigkeit oder Seltenheit von
vor Gericht gebrachten Fällen fleischlicher Verbrechen für die Beur¬
theilung des sittlichen Zustandes in einer Bevölkerung nur mit grö߬
ter Vorsicht gewürdigt werden darf. Das Ländchen Lippe ^Detmold,
das nicht in dem Geruch steht, sich durch große Sittenverderbniß aus-
zuzeichnen, hatte von 1826—1828 durchschnittlich alljährlich drei Cri-
minaluntersuchungen wegen fleischlicher Verbrechen, während das ganze
Königreich Baiern im Jahre 1828 deren nur zwei zählte, ein Land,
dessen Hauptstadt mehr uneheliche Kinder alljährlich in die Welt setzt,
als selbst Paris. „Allein eben die Seltenheit dieser Processe," sagt
Mittermai er, „muß als ein Beweis vermehrter Unsittlichkeit gel¬
ten, wenn sie auch als Zeichen des Fortschreitens der Civilisation er¬
scheinen mag, die freilich mit solchen Fleischesverbrechen und Liebes¬
verhältnissen es leicht nimmt, witzig darüber zu scherzen lehrt, in den
geselligen Verhältnissen freundlich den oft liebenswürdigen Verbrecher
aufnimmt, und eS zuletzt so weit bringt, daß der beleidigte Ehegatte
lieber schweigt, weil er entweder den gefälligen Gatten spielt, um auch
sich desto leichter entschädigen zu dürfen, oder weil er fürchten muß,
von der Menge verspottet zu werden, wenn er dergleichen Verhältnisse
durch eine gerichtliche Klage öffentlich macht. Es liegt eine Art von
Hohn gegen die Strafjustiz in der Erfahrung —, daß in ganz Frank¬
reich, bei einer Bevölkerung von 3l Millionen, nur 57 Ehebruchsfälle
zur Untersuchung kommen.

Ungemein weniger als bei den Evangelischen kommen bei den
Katholiken die Selbstmorde vor (90 weniger auf eine Million); diese
Thatsache ist nicht neu und ich selbst habe sie bereits vor 20 Jahren
grade auch für die Provinzen des preußischen Staates, in denen sie


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[0432] hier indeß wohl schwerlich einen entscheidenden Einfluß, und viel mehr das mehr oder weniger gedrängte Zusammenwohnen, wie wir zeigen werdem Dieser Umstand aber gibt anscheinend den evangelischen Pro¬ vinzen als solchen ein Uebergewicht in dem Vorkommen der fleisch¬ lichen Verbrechen, in sofern, als die compacteste evangelische Bevölke¬ rung zufällig auch grade diejenige ist, die am dichtesten in Städten zusammen lebt. Nur allein in Beziehung auf den Ehebruch, der zu den fleischlichen Verbrechen des Strafrechts gezählt wird, dürfte das verschiedene religiöse Bekenntniß in Betracht kommen, und es ist wohl keine unbegründete Annahme, daß jenes Mehr in den evangelischen Provinzen zum Theil mit auf Rechnung häufigerer Ehescheidungskla¬ gen wegen angeblichen oder wirklichen Ehebruchs zu setzen sein dürfte. Im Uebrigen ist zu beachten, daß die Häufigkeit oder Seltenheit von vor Gericht gebrachten Fällen fleischlicher Verbrechen für die Beur¬ theilung des sittlichen Zustandes in einer Bevölkerung nur mit grö߬ ter Vorsicht gewürdigt werden darf. Das Ländchen Lippe ^Detmold, das nicht in dem Geruch steht, sich durch große Sittenverderbniß aus- zuzeichnen, hatte von 1826—1828 durchschnittlich alljährlich drei Cri- minaluntersuchungen wegen fleischlicher Verbrechen, während das ganze Königreich Baiern im Jahre 1828 deren nur zwei zählte, ein Land, dessen Hauptstadt mehr uneheliche Kinder alljährlich in die Welt setzt, als selbst Paris. „Allein eben die Seltenheit dieser Processe," sagt Mittermai er, „muß als ein Beweis vermehrter Unsittlichkeit gel¬ ten, wenn sie auch als Zeichen des Fortschreitens der Civilisation er¬ scheinen mag, die freilich mit solchen Fleischesverbrechen und Liebes¬ verhältnissen es leicht nimmt, witzig darüber zu scherzen lehrt, in den geselligen Verhältnissen freundlich den oft liebenswürdigen Verbrecher aufnimmt, und eS zuletzt so weit bringt, daß der beleidigte Ehegatte lieber schweigt, weil er entweder den gefälligen Gatten spielt, um auch sich desto leichter entschädigen zu dürfen, oder weil er fürchten muß, von der Menge verspottet zu werden, wenn er dergleichen Verhältnisse durch eine gerichtliche Klage öffentlich macht. Es liegt eine Art von Hohn gegen die Strafjustiz in der Erfahrung —, daß in ganz Frank¬ reich, bei einer Bevölkerung von 3l Millionen, nur 57 Ehebruchsfälle zur Untersuchung kommen. Ungemein weniger als bei den Evangelischen kommen bei den Katholiken die Selbstmorde vor (90 weniger auf eine Million); diese Thatsache ist nicht neu und ich selbst habe sie bereits vor 20 Jahren grade auch für die Provinzen des preußischen Staates, in denen sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/432>, abgerufen am 24.11.2024.