Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den anderseitigen mehr als konservativen Ansichten, namentlich in reli¬
giösen und kirchlichen Dingen, hat man Ursache, die Fortschrittselemente
in seinen Staatsvorschlägen stark in Zweifel zu ziehen. Bor der Hand
befindet sich dieser Staatsmann auf seinem neuen Posten in Paris und
sein Einfluß, der, wahrend seines dreimonatlichen Aufenthalts hier, nicht
ganz spurlos war, ist eben durch die Kürze dieses Aufenthalts und durch
die Ferne, in der er sich jetzt befindet, nicht zu fürchten oder nicht zu
hoffen -- wie man will. Was nun aus der von ihm unterstützten
Preßfrage, in Bezug auf die Creirung neuer Regierungsblätter, werden
wird, muß uns die nächste Zukunft lehren.

Seit vierzehn Tagen gastirt hier Emil Devrient. Es sind die alten
Paradepferde, die er vorreitet: Posa, Hamlet, Don Cäsar u. s. w. Das
ist Alles schon von den Recensenten aller deutschen Gauen, von oben bis
unten zehn und hundertmal durchgesprochen worden. Im Grunde kann
es Herrn Emil Devrient gleichgültig sein, ob und wie man noch von
ihm spricht. Die Haupttendenz dieses Künstlers geht jetzt offenbar dahin,
sich mit einer reichen und gesicherten Rente vom Theater in den Privat¬
stand zurückzuziehen. Er weiß, daß es der schönste Schlußstein hier im
Künstlerleben ist, wenn man zu rechter Zeit zurückzutreten weiß und nicht
die Agonie eines verröchelnden Talentes den einst begeisterten Zuschauern
sehen laßt. Herr Devrient ist noch weit von der letzten Stunde seines
Talentes, obgleich nicht zu leugnen ist, daß dieses in absteigender Linie
sich befindet. Das schöne sieggewohnte Organ verlor viel von seinem
weichen Schmelz und in dem Bestreben, es wieder zu seiner Höhe zu
bringen, geht es Devrient oft wie mit einem trocknen Geigenwirbel, der
in der Mitte einer Passage nachläßt und der Saite einen schleppenden,
quikenden Ton erpreßt. Doch müßte man ungerecht sein, wenn man
nicht die zahlreichen glänzenden Eigenschaften anerkennen wollte, durch
welche dieser Schauspieler noch immer über die meisten deutschen Künst¬
ler seines Faches hervorragt. Sein Hamlet namentlich ist eine classische
Leistung voll Schwung und Einheit. Besonders lobenswerth ist bei ihm
das Fallenlassen einzelner Phrasen und Momente, welche andere Schau¬
spieler bis zur Caricatur hervorheben. Der Hamlet der Darstellung muß
ein anderer sein als der Hamlet der Lectüre. Beim stillen vor sich Hin¬
lesen im einsamen Zimmer da hat jeder Satz, jedes Wort dieser tief¬
sinnigen Dichtungen einen Anspruch auf Nachdenken. Aber auf der
Scene, da darf die Mosaik der einzelnen Gedanken nicht auseinander¬
gerissen werden. Da darf Manches nicht so scharf accentuirt und hervor¬
gehoben werden, um nicht das Gesammtbild zu verzerren. In dieser
Beziehung versündigen sich die meisten Hamletdarsteller. Sie commen-
tiren mit Gesten und hervorgehobenen Accent jedes Wort und ziehen so
den Charakter in's Breite und lösen ihn auf, statt ihn zusammen zu
fassen. Devrient's Hamlet ist durchaus nicht der schwammige Patron,
den gewöhnliche Schauspieler aus ihm machen. Er ist Rcflexionsmcnsch,
aber kein Philister, kein Mitarbeiter an einer deutschen Literaturzeitung,
kein Privatdocent an einer preußischen Universität. Bei den meisten
Darstellern begreift man es gar nicht, wie dieser Hamlet dazu kommt,


den anderseitigen mehr als konservativen Ansichten, namentlich in reli¬
giösen und kirchlichen Dingen, hat man Ursache, die Fortschrittselemente
in seinen Staatsvorschlägen stark in Zweifel zu ziehen. Bor der Hand
befindet sich dieser Staatsmann auf seinem neuen Posten in Paris und
sein Einfluß, der, wahrend seines dreimonatlichen Aufenthalts hier, nicht
ganz spurlos war, ist eben durch die Kürze dieses Aufenthalts und durch
die Ferne, in der er sich jetzt befindet, nicht zu fürchten oder nicht zu
hoffen — wie man will. Was nun aus der von ihm unterstützten
Preßfrage, in Bezug auf die Creirung neuer Regierungsblätter, werden
wird, muß uns die nächste Zukunft lehren.

Seit vierzehn Tagen gastirt hier Emil Devrient. Es sind die alten
Paradepferde, die er vorreitet: Posa, Hamlet, Don Cäsar u. s. w. Das
ist Alles schon von den Recensenten aller deutschen Gauen, von oben bis
unten zehn und hundertmal durchgesprochen worden. Im Grunde kann
es Herrn Emil Devrient gleichgültig sein, ob und wie man noch von
ihm spricht. Die Haupttendenz dieses Künstlers geht jetzt offenbar dahin,
sich mit einer reichen und gesicherten Rente vom Theater in den Privat¬
stand zurückzuziehen. Er weiß, daß es der schönste Schlußstein hier im
Künstlerleben ist, wenn man zu rechter Zeit zurückzutreten weiß und nicht
die Agonie eines verröchelnden Talentes den einst begeisterten Zuschauern
sehen laßt. Herr Devrient ist noch weit von der letzten Stunde seines
Talentes, obgleich nicht zu leugnen ist, daß dieses in absteigender Linie
sich befindet. Das schöne sieggewohnte Organ verlor viel von seinem
weichen Schmelz und in dem Bestreben, es wieder zu seiner Höhe zu
bringen, geht es Devrient oft wie mit einem trocknen Geigenwirbel, der
in der Mitte einer Passage nachläßt und der Saite einen schleppenden,
quikenden Ton erpreßt. Doch müßte man ungerecht sein, wenn man
nicht die zahlreichen glänzenden Eigenschaften anerkennen wollte, durch
welche dieser Schauspieler noch immer über die meisten deutschen Künst¬
ler seines Faches hervorragt. Sein Hamlet namentlich ist eine classische
Leistung voll Schwung und Einheit. Besonders lobenswerth ist bei ihm
das Fallenlassen einzelner Phrasen und Momente, welche andere Schau¬
spieler bis zur Caricatur hervorheben. Der Hamlet der Darstellung muß
ein anderer sein als der Hamlet der Lectüre. Beim stillen vor sich Hin¬
lesen im einsamen Zimmer da hat jeder Satz, jedes Wort dieser tief¬
sinnigen Dichtungen einen Anspruch auf Nachdenken. Aber auf der
Scene, da darf die Mosaik der einzelnen Gedanken nicht auseinander¬
gerissen werden. Da darf Manches nicht so scharf accentuirt und hervor¬
gehoben werden, um nicht das Gesammtbild zu verzerren. In dieser
Beziehung versündigen sich die meisten Hamletdarsteller. Sie commen-
tiren mit Gesten und hervorgehobenen Accent jedes Wort und ziehen so
den Charakter in's Breite und lösen ihn auf, statt ihn zusammen zu
fassen. Devrient's Hamlet ist durchaus nicht der schwammige Patron,
den gewöhnliche Schauspieler aus ihm machen. Er ist Rcflexionsmcnsch,
aber kein Philister, kein Mitarbeiter an einer deutschen Literaturzeitung,
kein Privatdocent an einer preußischen Universität. Bei den meisten
Darstellern begreift man es gar nicht, wie dieser Hamlet dazu kommt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182837"/>
            <p xml:id="ID_1185" prev="#ID_1184"> den anderseitigen mehr als konservativen Ansichten, namentlich in reli¬<lb/>
giösen und kirchlichen Dingen, hat man Ursache, die Fortschrittselemente<lb/>
in seinen Staatsvorschlägen stark in Zweifel zu ziehen. Bor der Hand<lb/>
befindet sich dieser Staatsmann auf seinem neuen Posten in Paris und<lb/>
sein Einfluß, der, wahrend seines dreimonatlichen Aufenthalts hier, nicht<lb/>
ganz spurlos war, ist eben durch die Kürze dieses Aufenthalts und durch<lb/>
die Ferne, in der er sich jetzt befindet, nicht zu fürchten oder nicht zu<lb/>
hoffen &#x2014; wie man will. Was nun aus der von ihm unterstützten<lb/>
Preßfrage, in Bezug auf die Creirung neuer Regierungsblätter, werden<lb/>
wird, muß uns die nächste Zukunft lehren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1186" next="#ID_1187"> Seit vierzehn Tagen gastirt hier Emil Devrient. Es sind die alten<lb/>
Paradepferde, die er vorreitet: Posa, Hamlet, Don Cäsar u. s. w. Das<lb/>
ist Alles schon von den Recensenten aller deutschen Gauen, von oben bis<lb/>
unten zehn und hundertmal durchgesprochen worden. Im Grunde kann<lb/>
es Herrn Emil Devrient gleichgültig sein, ob und wie man noch von<lb/>
ihm spricht. Die Haupttendenz dieses Künstlers geht jetzt offenbar dahin,<lb/>
sich mit einer reichen und gesicherten Rente vom Theater in den Privat¬<lb/>
stand zurückzuziehen. Er weiß, daß es der schönste Schlußstein hier im<lb/>
Künstlerleben ist, wenn man zu rechter Zeit zurückzutreten weiß und nicht<lb/>
die Agonie eines verröchelnden Talentes den einst begeisterten Zuschauern<lb/>
sehen laßt. Herr Devrient ist noch weit von der letzten Stunde seines<lb/>
Talentes, obgleich nicht zu leugnen ist, daß dieses in absteigender Linie<lb/>
sich befindet. Das schöne sieggewohnte Organ verlor viel von seinem<lb/>
weichen Schmelz und in dem Bestreben, es wieder zu seiner Höhe zu<lb/>
bringen, geht es Devrient oft wie mit einem trocknen Geigenwirbel, der<lb/>
in der Mitte einer Passage nachläßt und der Saite einen schleppenden,<lb/>
quikenden Ton erpreßt. Doch müßte man ungerecht sein, wenn man<lb/>
nicht die zahlreichen glänzenden Eigenschaften anerkennen wollte, durch<lb/>
welche dieser Schauspieler noch immer über die meisten deutschen Künst¬<lb/>
ler seines Faches hervorragt. Sein Hamlet namentlich ist eine classische<lb/>
Leistung voll Schwung und Einheit. Besonders lobenswerth ist bei ihm<lb/>
das Fallenlassen einzelner Phrasen und Momente, welche andere Schau¬<lb/>
spieler bis zur Caricatur hervorheben. Der Hamlet der Darstellung muß<lb/>
ein anderer sein als der Hamlet der Lectüre. Beim stillen vor sich Hin¬<lb/>
lesen im einsamen Zimmer da hat jeder Satz, jedes Wort dieser tief¬<lb/>
sinnigen Dichtungen einen Anspruch auf Nachdenken. Aber auf der<lb/>
Scene, da darf die Mosaik der einzelnen Gedanken nicht auseinander¬<lb/>
gerissen werden. Da darf Manches nicht so scharf accentuirt und hervor¬<lb/>
gehoben werden, um nicht das Gesammtbild zu verzerren. In dieser<lb/>
Beziehung versündigen sich die meisten Hamletdarsteller. Sie commen-<lb/>
tiren mit Gesten und hervorgehobenen Accent jedes Wort und ziehen so<lb/>
den Charakter in's Breite und lösen ihn auf, statt ihn zusammen zu<lb/>
fassen. Devrient's Hamlet ist durchaus nicht der schwammige Patron,<lb/>
den gewöhnliche Schauspieler aus ihm machen. Er ist Rcflexionsmcnsch,<lb/>
aber kein Philister, kein Mitarbeiter an einer deutschen Literaturzeitung,<lb/>
kein Privatdocent an einer preußischen Universität. Bei den meisten<lb/>
Darstellern begreift man es gar nicht, wie dieser Hamlet dazu kommt,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] den anderseitigen mehr als konservativen Ansichten, namentlich in reli¬ giösen und kirchlichen Dingen, hat man Ursache, die Fortschrittselemente in seinen Staatsvorschlägen stark in Zweifel zu ziehen. Bor der Hand befindet sich dieser Staatsmann auf seinem neuen Posten in Paris und sein Einfluß, der, wahrend seines dreimonatlichen Aufenthalts hier, nicht ganz spurlos war, ist eben durch die Kürze dieses Aufenthalts und durch die Ferne, in der er sich jetzt befindet, nicht zu fürchten oder nicht zu hoffen — wie man will. Was nun aus der von ihm unterstützten Preßfrage, in Bezug auf die Creirung neuer Regierungsblätter, werden wird, muß uns die nächste Zukunft lehren. Seit vierzehn Tagen gastirt hier Emil Devrient. Es sind die alten Paradepferde, die er vorreitet: Posa, Hamlet, Don Cäsar u. s. w. Das ist Alles schon von den Recensenten aller deutschen Gauen, von oben bis unten zehn und hundertmal durchgesprochen worden. Im Grunde kann es Herrn Emil Devrient gleichgültig sein, ob und wie man noch von ihm spricht. Die Haupttendenz dieses Künstlers geht jetzt offenbar dahin, sich mit einer reichen und gesicherten Rente vom Theater in den Privat¬ stand zurückzuziehen. Er weiß, daß es der schönste Schlußstein hier im Künstlerleben ist, wenn man zu rechter Zeit zurückzutreten weiß und nicht die Agonie eines verröchelnden Talentes den einst begeisterten Zuschauern sehen laßt. Herr Devrient ist noch weit von der letzten Stunde seines Talentes, obgleich nicht zu leugnen ist, daß dieses in absteigender Linie sich befindet. Das schöne sieggewohnte Organ verlor viel von seinem weichen Schmelz und in dem Bestreben, es wieder zu seiner Höhe zu bringen, geht es Devrient oft wie mit einem trocknen Geigenwirbel, der in der Mitte einer Passage nachläßt und der Saite einen schleppenden, quikenden Ton erpreßt. Doch müßte man ungerecht sein, wenn man nicht die zahlreichen glänzenden Eigenschaften anerkennen wollte, durch welche dieser Schauspieler noch immer über die meisten deutschen Künst¬ ler seines Faches hervorragt. Sein Hamlet namentlich ist eine classische Leistung voll Schwung und Einheit. Besonders lobenswerth ist bei ihm das Fallenlassen einzelner Phrasen und Momente, welche andere Schau¬ spieler bis zur Caricatur hervorheben. Der Hamlet der Darstellung muß ein anderer sein als der Hamlet der Lectüre. Beim stillen vor sich Hin¬ lesen im einsamen Zimmer da hat jeder Satz, jedes Wort dieser tief¬ sinnigen Dichtungen einen Anspruch auf Nachdenken. Aber auf der Scene, da darf die Mosaik der einzelnen Gedanken nicht auseinander¬ gerissen werden. Da darf Manches nicht so scharf accentuirt und hervor¬ gehoben werden, um nicht das Gesammtbild zu verzerren. In dieser Beziehung versündigen sich die meisten Hamletdarsteller. Sie commen- tiren mit Gesten und hervorgehobenen Accent jedes Wort und ziehen so den Charakter in's Breite und lösen ihn auf, statt ihn zusammen zu fassen. Devrient's Hamlet ist durchaus nicht der schwammige Patron, den gewöhnliche Schauspieler aus ihm machen. Er ist Rcflexionsmcnsch, aber kein Philister, kein Mitarbeiter an einer deutschen Literaturzeitung, kein Privatdocent an einer preußischen Universität. Bei den meisten Darstellern begreift man es gar nicht, wie dieser Hamlet dazu kommt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/414>, abgerufen am 27.11.2024.