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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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nünftig sein sollten, doch unmöglich alle vernünftigen Institute immer
deutsch sein könnten; Gott ist nicht blos ein Gott der Kinder
Israels, sondern aller Welt; -- ebenso ist der Geist auch nicht blos
in deutschen Eichenwäldern heimisch, sondern wohnt auch am brittischen
Meeresufer und am Seinestrand. Man wurde sich der Mangelhaftig-
keit des bisherigen Wollens bewußt; die Philosophie trat an die Men¬
schen heran und bildete sie, statt zu taciteisch-germanischen Recken, die
Eicheln aßen und sich in Meth berauschten, zu sittlichen, vernünftigen,
selbstbewußten, die Vorzüge Deutschlands anerkennenden, aber nicht
überschätzenden Männern. Der Ausdruck "Mensch" fing an mehr zu
gelten, wie Deutsch.

An dieser Deutschthümelei ist Wirth's Politik gestorben; der Mann
gehört schon ebenso gut der Geschichte an, wie Arndt und Rotteck.
Der ganze süddeutsche constitutionelle Liberalismus hat sich über¬
lebt (?); nicht nur unser Staatsleben, alle unsere socialen und
kirchlichen Zustände sind einer zersetzenden Kritik unterworfen, die nicht
nur auf der Erde, sondern auch im Himmel die Herrschaft des Egois¬
mus überwältigen wird. Die Transcendenz, welche man vor 12 Jah¬
ren nur im Staate bekämpfte, wo man nicht, wie eine Maschine, von
einer absolut über uns stehenden, mit uns nichts gemeinsam habenden
Macht, regiert werden wollte, sie wird jetzt auch heftig in der Reli¬
gion, ihrer Heimath und im socialen Leben angegriffen. Der ganze
Mensch mit seinem ganzen Denken, Glauben und Leben, soll sich selbst
wiedergegeben werden; nicht nur in seiner Stellung zur Polizei soll
der Mann eine freie Persönlichkeit sein; Gott und der Welt, wie sich
selbst gegenüber, soll er seine ewigen, unveräußerlichen Rechte behaupten.

Wirth hat mit dem Scharfblick eines von dem Genius der
Geschichte erzogenen Mannes die Fragen der Gegenwart so gut
erkannt, wie den Charakter der 30ger Jahre. Aber er ist auch
besonnen und weiß, daß man das Ende nie vor dem Anfang wünschen
soll, und deshalb sucht er die Freiheit des Menschen zuerst dem Staate
gegenüber geltend zu machen, weil die politische Freiheit Grundbeding-
niß der kirchlichen, wie der socialen ist. *) Und in diesem Sinne hat
er denn gewirkt und gestrebt:


Wer den Besten seiner Zeit genügt,
Der hat für alle Zeit gelebt.


*) Der ausbrechende Principienkompf betrifft bei seinem ersten Auftre¬
ten nicht die Freiheit, sondern vorerst den Grundsatz der Nationalität; indessen
eben deshalb, weil die Entwickelung diesen gründlich sichtenden Gang einschlägt,

nünftig sein sollten, doch unmöglich alle vernünftigen Institute immer
deutsch sein könnten; Gott ist nicht blos ein Gott der Kinder
Israels, sondern aller Welt; — ebenso ist der Geist auch nicht blos
in deutschen Eichenwäldern heimisch, sondern wohnt auch am brittischen
Meeresufer und am Seinestrand. Man wurde sich der Mangelhaftig-
keit des bisherigen Wollens bewußt; die Philosophie trat an die Men¬
schen heran und bildete sie, statt zu taciteisch-germanischen Recken, die
Eicheln aßen und sich in Meth berauschten, zu sittlichen, vernünftigen,
selbstbewußten, die Vorzüge Deutschlands anerkennenden, aber nicht
überschätzenden Männern. Der Ausdruck „Mensch" fing an mehr zu
gelten, wie Deutsch.

An dieser Deutschthümelei ist Wirth's Politik gestorben; der Mann
gehört schon ebenso gut der Geschichte an, wie Arndt und Rotteck.
Der ganze süddeutsche constitutionelle Liberalismus hat sich über¬
lebt (?); nicht nur unser Staatsleben, alle unsere socialen und
kirchlichen Zustände sind einer zersetzenden Kritik unterworfen, die nicht
nur auf der Erde, sondern auch im Himmel die Herrschaft des Egois¬
mus überwältigen wird. Die Transcendenz, welche man vor 12 Jah¬
ren nur im Staate bekämpfte, wo man nicht, wie eine Maschine, von
einer absolut über uns stehenden, mit uns nichts gemeinsam habenden
Macht, regiert werden wollte, sie wird jetzt auch heftig in der Reli¬
gion, ihrer Heimath und im socialen Leben angegriffen. Der ganze
Mensch mit seinem ganzen Denken, Glauben und Leben, soll sich selbst
wiedergegeben werden; nicht nur in seiner Stellung zur Polizei soll
der Mann eine freie Persönlichkeit sein; Gott und der Welt, wie sich
selbst gegenüber, soll er seine ewigen, unveräußerlichen Rechte behaupten.

Wirth hat mit dem Scharfblick eines von dem Genius der
Geschichte erzogenen Mannes die Fragen der Gegenwart so gut
erkannt, wie den Charakter der 30ger Jahre. Aber er ist auch
besonnen und weiß, daß man das Ende nie vor dem Anfang wünschen
soll, und deshalb sucht er die Freiheit des Menschen zuerst dem Staate
gegenüber geltend zu machen, weil die politische Freiheit Grundbeding-
niß der kirchlichen, wie der socialen ist. *) Und in diesem Sinne hat
er denn gewirkt und gestrebt:


Wer den Besten seiner Zeit genügt,
Der hat für alle Zeit gelebt.


*) Der ausbrechende Principienkompf betrifft bei seinem ersten Auftre¬
ten nicht die Freiheit, sondern vorerst den Grundsatz der Nationalität; indessen
eben deshalb, weil die Entwickelung diesen gründlich sichtenden Gang einschlägt,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/342>, abgerufen am 23.07.2024.