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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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mischen Rücksichten, eine Stelle als Mitarbeiter bei dem berühmtesten
Sachwalter des Landes, bei Neinau. Hier beschäftigte er sich viel mit
den Prozessen der Bauern gegen Fiscus und Adel; sah, wie beson¬
ders der bairische Fiscus immer darauf ausging, das Interesse des
Volkes, nicht nur gegen Billigkeit, sondern selbst gegen Recht, zu verletzen,
und konnte sich deshalb einer Abneigung gegen die bairische Negie¬
rung schon jetzt nicht erwehren. Das schleppende Verfahren vor Ge¬
richt, das im Vergleich zu der preußischen Gerichtsordnung, die frü¬
her galt, unerträglich war, stieß ihn auch ab; die übertriebenen Steuern,
die Prozeßkosten, die Gebühren der Advocaten sogen das Land aus;
diese Leiden des Volkes jammerten ihn, er glaubte, mit gutem Willen
sei allem Elend von Seiten der Regierung leicht abzuhelfen. Er setzte
sich daher bei seinen überhäuften Berufsgeschäften halbe Nächte hin,
um der Regierung in einer besonderen Druckschnft-i-) U,er den Zu¬
stand der Rechtspflege Licht zu geben. Hören wir selbst ihn über den
Erfolg seiner Bemühungen reden:

"Was war das Ergebniß meiner Anstrengung? Die Negierung
lachte mich aus. Alle Vernunftgründe und alle Ergießungen eines
fühlenden Herzens zeigten sich vergeblich; es war grade so, als wenn
man tauben Wänden vorgepredigt hätte. Da setzte sich die erste Bit¬
terkeit in mir an, und ich faßte den Gedanken, mich aus dem Buche
der Geschichte und den ewigen Gesetzen des Bildungsganges zu beleh¬
ren, ob es in den Kräften einer Regierung stehe, gegen die Leiden ih¬
res Volkes sich zu verhärten und den Forderungen der Gerechtigkeit
bleibend sich zu widersetzen."

Die Julirevolution kam. Als in den Zeitungen die Nachricht
stand: "die Truppen weichen auf allen Punkten zurück, die dreifarbige
Fahne weht auf Untre-Dame, das Volk dringt siegreich gegen die
Tuilerien vor," bemächtigte sich Wirth's eine ungewöhnliche Stim¬
mung; gewaltsam wollten die Thränen hervorbrechen, er mußte hin¬
ausstürmen, sie zu verbergen. Sein ganzes Wesen war, um mich sei¬
ner eigenen Worte zu bedienen, ein feierliches Gebet, welches lange in
der Seele nachzitterte. Es drängte den Mann, dessen ganze Seele
seinem Vaterlande gehörte, jetzt sich ganz mit allen seinen Kräften
der Verbesserung der wesentlichsten Volkszustände hinzugeben. Er legte
mit einer Aufopferung, mit einem Muthe, den man sonst bei deutschen



*) Beiträge zur Revision der bürgerlichen Prozeßgesehgebung. Gesammelte
"Schriften. S. 9.

mischen Rücksichten, eine Stelle als Mitarbeiter bei dem berühmtesten
Sachwalter des Landes, bei Neinau. Hier beschäftigte er sich viel mit
den Prozessen der Bauern gegen Fiscus und Adel; sah, wie beson¬
ders der bairische Fiscus immer darauf ausging, das Interesse des
Volkes, nicht nur gegen Billigkeit, sondern selbst gegen Recht, zu verletzen,
und konnte sich deshalb einer Abneigung gegen die bairische Negie¬
rung schon jetzt nicht erwehren. Das schleppende Verfahren vor Ge¬
richt, das im Vergleich zu der preußischen Gerichtsordnung, die frü¬
her galt, unerträglich war, stieß ihn auch ab; die übertriebenen Steuern,
die Prozeßkosten, die Gebühren der Advocaten sogen das Land aus;
diese Leiden des Volkes jammerten ihn, er glaubte, mit gutem Willen
sei allem Elend von Seiten der Regierung leicht abzuhelfen. Er setzte
sich daher bei seinen überhäuften Berufsgeschäften halbe Nächte hin,
um der Regierung in einer besonderen Druckschnft-i-) U,er den Zu¬
stand der Rechtspflege Licht zu geben. Hören wir selbst ihn über den
Erfolg seiner Bemühungen reden:

„Was war das Ergebniß meiner Anstrengung? Die Negierung
lachte mich aus. Alle Vernunftgründe und alle Ergießungen eines
fühlenden Herzens zeigten sich vergeblich; es war grade so, als wenn
man tauben Wänden vorgepredigt hätte. Da setzte sich die erste Bit¬
terkeit in mir an, und ich faßte den Gedanken, mich aus dem Buche
der Geschichte und den ewigen Gesetzen des Bildungsganges zu beleh¬
ren, ob es in den Kräften einer Regierung stehe, gegen die Leiden ih¬
res Volkes sich zu verhärten und den Forderungen der Gerechtigkeit
bleibend sich zu widersetzen."

Die Julirevolution kam. Als in den Zeitungen die Nachricht
stand: „die Truppen weichen auf allen Punkten zurück, die dreifarbige
Fahne weht auf Untre-Dame, das Volk dringt siegreich gegen die
Tuilerien vor," bemächtigte sich Wirth's eine ungewöhnliche Stim¬
mung; gewaltsam wollten die Thränen hervorbrechen, er mußte hin¬
ausstürmen, sie zu verbergen. Sein ganzes Wesen war, um mich sei¬
ner eigenen Worte zu bedienen, ein feierliches Gebet, welches lange in
der Seele nachzitterte. Es drängte den Mann, dessen ganze Seele
seinem Vaterlande gehörte, jetzt sich ganz mit allen seinen Kräften
der Verbesserung der wesentlichsten Volkszustände hinzugeben. Er legte
mit einer Aufopferung, mit einem Muthe, den man sonst bei deutschen



*) Beiträge zur Revision der bürgerlichen Prozeßgesehgebung. Gesammelte
«Schriften. S. 9.
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[0333] mischen Rücksichten, eine Stelle als Mitarbeiter bei dem berühmtesten Sachwalter des Landes, bei Neinau. Hier beschäftigte er sich viel mit den Prozessen der Bauern gegen Fiscus und Adel; sah, wie beson¬ ders der bairische Fiscus immer darauf ausging, das Interesse des Volkes, nicht nur gegen Billigkeit, sondern selbst gegen Recht, zu verletzen, und konnte sich deshalb einer Abneigung gegen die bairische Negie¬ rung schon jetzt nicht erwehren. Das schleppende Verfahren vor Ge¬ richt, das im Vergleich zu der preußischen Gerichtsordnung, die frü¬ her galt, unerträglich war, stieß ihn auch ab; die übertriebenen Steuern, die Prozeßkosten, die Gebühren der Advocaten sogen das Land aus; diese Leiden des Volkes jammerten ihn, er glaubte, mit gutem Willen sei allem Elend von Seiten der Regierung leicht abzuhelfen. Er setzte sich daher bei seinen überhäuften Berufsgeschäften halbe Nächte hin, um der Regierung in einer besonderen Druckschnft-i-) U,er den Zu¬ stand der Rechtspflege Licht zu geben. Hören wir selbst ihn über den Erfolg seiner Bemühungen reden: „Was war das Ergebniß meiner Anstrengung? Die Negierung lachte mich aus. Alle Vernunftgründe und alle Ergießungen eines fühlenden Herzens zeigten sich vergeblich; es war grade so, als wenn man tauben Wänden vorgepredigt hätte. Da setzte sich die erste Bit¬ terkeit in mir an, und ich faßte den Gedanken, mich aus dem Buche der Geschichte und den ewigen Gesetzen des Bildungsganges zu beleh¬ ren, ob es in den Kräften einer Regierung stehe, gegen die Leiden ih¬ res Volkes sich zu verhärten und den Forderungen der Gerechtigkeit bleibend sich zu widersetzen." Die Julirevolution kam. Als in den Zeitungen die Nachricht stand: „die Truppen weichen auf allen Punkten zurück, die dreifarbige Fahne weht auf Untre-Dame, das Volk dringt siegreich gegen die Tuilerien vor," bemächtigte sich Wirth's eine ungewöhnliche Stim¬ mung; gewaltsam wollten die Thränen hervorbrechen, er mußte hin¬ ausstürmen, sie zu verbergen. Sein ganzes Wesen war, um mich sei¬ ner eigenen Worte zu bedienen, ein feierliches Gebet, welches lange in der Seele nachzitterte. Es drängte den Mann, dessen ganze Seele seinem Vaterlande gehörte, jetzt sich ganz mit allen seinen Kräften der Verbesserung der wesentlichsten Volkszustände hinzugeben. Er legte mit einer Aufopferung, mit einem Muthe, den man sonst bei deutschen *) Beiträge zur Revision der bürgerlichen Prozeßgesehgebung. Gesammelte «Schriften. S. 9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/333>, abgerufen am 24.11.2024.