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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Die Schuld davon trug allerdings nicht das Volk, sondern Rüge
selbst. Die sächsische Kammer, man kann durchaus nicht anders sagen,
vertrat in ihrer Majorität wirklich das allgemein im Volke herrschende
Bewußtsein: diese Majorität fühlte, trotz aller schönen Phrasen des
Abgeordneten Oberländer und Anderer, die sich der Jahrbücher annah¬
men, daß die Jahrbücher eine Richtung eingeschlagen hatten, aus wel¬
cher das Volk seiner theuersten idealen Güter beraubt werden sollte.
Es lag daher auch kein Widerspruch darin, daß dieselben Leute, welche
für die sogenannte "Preßfreiheit" im Allgemeinen sich enthusiasmirt
hatten, diejenige Freiheit der Presse, um welche es sich in diesem
bestimmten Falle handelte, verneinten. Die Preßfreiheit, für welche sie
Reden gehalten hatten, war die Freiheit der in ihren Augen legitimen
Presse, nicht aber die Freiheit einer solchen, welche in ihren Augen
"zügellos", "unsittlich", "irreligiös" erschien. Rüge hatte damals und
hat, wie sich weiterhin zeigen wird, noch jetzt kein allgemeines Recht,
sie deswegen zu schelten, denn auch er verlangt eine Freiheit in be¬
stimmten sittlichen Schranken; nur will er andere Schranken gesetzt
wissen, als diejenigen, durch welche sich die Vertreter des sächsischen
Volkes beschränkt suhlen und durch welche sich wirklich das Volk in
Masse beschränkt fühlt und fühlen will.

Da nun Rüge die Gerechtigkeit dieser Anerkennung nicht üben
konnte, so erbitterte ihn der Widerstand, welchen er erfuhr. Er ward
inne, daß er seine Perlen vor die Säue geworfen hatte. Dieses Volk
ist es nicht werth, daß man ihm wohlthue, sagte er sich. Man muß
Menschen aufsuchen, welche würdiger sind, daß man sie beglücke und
welche für diese Beglückung empfänglicher sind. Sein Blick fiel nun
ganz natürlich auf Frankreich. Die Richtung, welche seine Jahrbücher
allmälig immer entschiedener verfolgt hatten, war eine solche, die von
der Idealwelt in Religion, Kunst und Wissenschaft ab und zu der
wirklichen Welt hin zu führen schien; eine Verwandtschaft des neue¬
sten deutschen Denkens mit jenen, der französischen Philosophen aus
dem 18. Jahrhunderte stellte sich heraus, die neueste Entwicklung gab
sich als die Vollendung der damals begonnenen Denkrevolution zu
erkennen; die Franzosen empfehlen sich daher als das praktische Volk,
welches damals von der Revolution im Denken zu einer Revolution
im Leben übergegangen war und welches denn auch wohl hoffentlich
die theoretische Vollendung der von ihm begonnenen Denkrevolution
wiederum in Praxis zu verwandeln, sähig sein würde, wenn es sich
nur erst derselben bemächtigen wollte. Den Franzosen also mußte man


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Die Schuld davon trug allerdings nicht das Volk, sondern Rüge
selbst. Die sächsische Kammer, man kann durchaus nicht anders sagen,
vertrat in ihrer Majorität wirklich das allgemein im Volke herrschende
Bewußtsein: diese Majorität fühlte, trotz aller schönen Phrasen des
Abgeordneten Oberländer und Anderer, die sich der Jahrbücher annah¬
men, daß die Jahrbücher eine Richtung eingeschlagen hatten, aus wel¬
cher das Volk seiner theuersten idealen Güter beraubt werden sollte.
Es lag daher auch kein Widerspruch darin, daß dieselben Leute, welche
für die sogenannte „Preßfreiheit" im Allgemeinen sich enthusiasmirt
hatten, diejenige Freiheit der Presse, um welche es sich in diesem
bestimmten Falle handelte, verneinten. Die Preßfreiheit, für welche sie
Reden gehalten hatten, war die Freiheit der in ihren Augen legitimen
Presse, nicht aber die Freiheit einer solchen, welche in ihren Augen
„zügellos", „unsittlich", „irreligiös" erschien. Rüge hatte damals und
hat, wie sich weiterhin zeigen wird, noch jetzt kein allgemeines Recht,
sie deswegen zu schelten, denn auch er verlangt eine Freiheit in be¬
stimmten sittlichen Schranken; nur will er andere Schranken gesetzt
wissen, als diejenigen, durch welche sich die Vertreter des sächsischen
Volkes beschränkt suhlen und durch welche sich wirklich das Volk in
Masse beschränkt fühlt und fühlen will.

Da nun Rüge die Gerechtigkeit dieser Anerkennung nicht üben
konnte, so erbitterte ihn der Widerstand, welchen er erfuhr. Er ward
inne, daß er seine Perlen vor die Säue geworfen hatte. Dieses Volk
ist es nicht werth, daß man ihm wohlthue, sagte er sich. Man muß
Menschen aufsuchen, welche würdiger sind, daß man sie beglücke und
welche für diese Beglückung empfänglicher sind. Sein Blick fiel nun
ganz natürlich auf Frankreich. Die Richtung, welche seine Jahrbücher
allmälig immer entschiedener verfolgt hatten, war eine solche, die von
der Idealwelt in Religion, Kunst und Wissenschaft ab und zu der
wirklichen Welt hin zu führen schien; eine Verwandtschaft des neue¬
sten deutschen Denkens mit jenen, der französischen Philosophen aus
dem 18. Jahrhunderte stellte sich heraus, die neueste Entwicklung gab
sich als die Vollendung der damals begonnenen Denkrevolution zu
erkennen; die Franzosen empfehlen sich daher als das praktische Volk,
welches damals von der Revolution im Denken zu einer Revolution
im Leben übergegangen war und welches denn auch wohl hoffentlich
die theoretische Vollendung der von ihm begonnenen Denkrevolution
wiederum in Praxis zu verwandeln, sähig sein würde, wenn es sich
nur erst derselben bemächtigen wollte. Den Franzosen also mußte man


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[0235] Die Schuld davon trug allerdings nicht das Volk, sondern Rüge selbst. Die sächsische Kammer, man kann durchaus nicht anders sagen, vertrat in ihrer Majorität wirklich das allgemein im Volke herrschende Bewußtsein: diese Majorität fühlte, trotz aller schönen Phrasen des Abgeordneten Oberländer und Anderer, die sich der Jahrbücher annah¬ men, daß die Jahrbücher eine Richtung eingeschlagen hatten, aus wel¬ cher das Volk seiner theuersten idealen Güter beraubt werden sollte. Es lag daher auch kein Widerspruch darin, daß dieselben Leute, welche für die sogenannte „Preßfreiheit" im Allgemeinen sich enthusiasmirt hatten, diejenige Freiheit der Presse, um welche es sich in diesem bestimmten Falle handelte, verneinten. Die Preßfreiheit, für welche sie Reden gehalten hatten, war die Freiheit der in ihren Augen legitimen Presse, nicht aber die Freiheit einer solchen, welche in ihren Augen „zügellos", „unsittlich", „irreligiös" erschien. Rüge hatte damals und hat, wie sich weiterhin zeigen wird, noch jetzt kein allgemeines Recht, sie deswegen zu schelten, denn auch er verlangt eine Freiheit in be¬ stimmten sittlichen Schranken; nur will er andere Schranken gesetzt wissen, als diejenigen, durch welche sich die Vertreter des sächsischen Volkes beschränkt suhlen und durch welche sich wirklich das Volk in Masse beschränkt fühlt und fühlen will. Da nun Rüge die Gerechtigkeit dieser Anerkennung nicht üben konnte, so erbitterte ihn der Widerstand, welchen er erfuhr. Er ward inne, daß er seine Perlen vor die Säue geworfen hatte. Dieses Volk ist es nicht werth, daß man ihm wohlthue, sagte er sich. Man muß Menschen aufsuchen, welche würdiger sind, daß man sie beglücke und welche für diese Beglückung empfänglicher sind. Sein Blick fiel nun ganz natürlich auf Frankreich. Die Richtung, welche seine Jahrbücher allmälig immer entschiedener verfolgt hatten, war eine solche, die von der Idealwelt in Religion, Kunst und Wissenschaft ab und zu der wirklichen Welt hin zu führen schien; eine Verwandtschaft des neue¬ sten deutschen Denkens mit jenen, der französischen Philosophen aus dem 18. Jahrhunderte stellte sich heraus, die neueste Entwicklung gab sich als die Vollendung der damals begonnenen Denkrevolution zu erkennen; die Franzosen empfehlen sich daher als das praktische Volk, welches damals von der Revolution im Denken zu einer Revolution im Leben übergegangen war und welches denn auch wohl hoffentlich die theoretische Vollendung der von ihm begonnenen Denkrevolution wiederum in Praxis zu verwandeln, sähig sein würde, wenn es sich nur erst derselben bemächtigen wollte. Den Franzosen also mußte man 29-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/235>, abgerufen am 25.08.2024.