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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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,>Gnädkgste Gräfin!" rief er ehrerbietig, indem er sich zum Wagen
herabneigte. -- "Was ist?" fragte die älteste Comtesse, schnell mildem
Kopfe ans dem Schlage. "Erschrecken Sie nicht, hier hat sich Einer
gehängt!" sagte der Kutscher und raschem Trabes ging die Fahrt
vorwärts.

Die Damen schrieen auf und alle Drei bogen sich aus dem
Wagen. "Wo denn?" man muß doch helfen!" - "Ja. es ist wohl
Vorschrift," sagte der Kutscher. "Eigentlich müßten wir ihn abschnei¬
den und mitnehmen, aber das geht doch nicht!" -- "Halt! Um Gottes¬
willen!" rief die Gräfin.

Der Wagen hielt. Entsetzlicher Anblick ! An dem Ast einer jun¬
gen Eiche hing der Unglückliche, sein blasser Kopf mit den fürchterlich
entstellten Gesichtszügen war ihm auf die Brust gefallen, den nackten
Hals umschnürte der würgende Strick, der ihm das Leben geraubt
hatte, denn es war offenbar längst mit ihm vorüber. Das Furcht¬
barste aber sür die Damen: es war Derselbe, den sie bei der Hin¬
fahrt am Wege liegend getroffen hatten, sie erkannten ihn an den
grauen Lumpen seiner Kleidung, damals hatte er ihnen die bittende
Hand entgegengestreckt, die letzte! Ein Scherflein hätte ihn gerettet,
hätte ihn, wie mit Engelshand, vom Entschlüsse der Verzweiflung zu-
rückgerissen -- und sie waren bedauernd vorübergefahren, hatten wohl
keine Börsen bei sich, die vornehmen Damen, aber eines Wortes hätte
es nur an den Kutscher oder Lakaien bedurft, ihm eine Gabe verab¬
folgen zu lassen! Welcher Anlaß zu unvertilgbaren Selbstvorwürfen!

"Rettet ihn! rettet ihn!" schrieen besonders die Mädchen, deren
Seelen von dem ersten Nahetreten des Unglücks und Verbrechens bis
in ihre Grundfesten erschüttert waren.

Der Jokei war vom Pferde gestiegen, hatte den Baum, der leicht
zu erklimmen war, so weit erstiegen als nöthig, und schnitt mit schar¬
fem Messer den Strick durch, daß der Erhängte schwer auf die Erde
fiel. Aber nicht mit gelösten Gliedern, er war schon steif und kalt,
wie der Jokei sich überzeugte, während die Damen händeringend zu"
sahen und sich doch von dem furchtbaren Anblicke nicht losreißen
konnten.

"Hier ist nichts mehr zu machen, gnädigste Gräfin," sagte der
Jokei. "Mitnehmen können wir ihn nicht, stehlen wird ihn Niemand,
wir lassen ihn liegen und zeigen es dem Gerichte an."

Das geschah. Der Graf, ein menschenfreundlicher Mann, schickte
sogleich einen Wagen mit dem Arzte ab, und tadelte die Seinen, daß


,>Gnädkgste Gräfin!" rief er ehrerbietig, indem er sich zum Wagen
herabneigte. — „Was ist?" fragte die älteste Comtesse, schnell mildem
Kopfe ans dem Schlage. „Erschrecken Sie nicht, hier hat sich Einer
gehängt!" sagte der Kutscher und raschem Trabes ging die Fahrt
vorwärts.

Die Damen schrieen auf und alle Drei bogen sich aus dem
Wagen. „Wo denn?" man muß doch helfen!" - „Ja. es ist wohl
Vorschrift," sagte der Kutscher. „Eigentlich müßten wir ihn abschnei¬
den und mitnehmen, aber das geht doch nicht!" — „Halt! Um Gottes¬
willen!" rief die Gräfin.

Der Wagen hielt. Entsetzlicher Anblick ! An dem Ast einer jun¬
gen Eiche hing der Unglückliche, sein blasser Kopf mit den fürchterlich
entstellten Gesichtszügen war ihm auf die Brust gefallen, den nackten
Hals umschnürte der würgende Strick, der ihm das Leben geraubt
hatte, denn es war offenbar längst mit ihm vorüber. Das Furcht¬
barste aber sür die Damen: es war Derselbe, den sie bei der Hin¬
fahrt am Wege liegend getroffen hatten, sie erkannten ihn an den
grauen Lumpen seiner Kleidung, damals hatte er ihnen die bittende
Hand entgegengestreckt, die letzte! Ein Scherflein hätte ihn gerettet,
hätte ihn, wie mit Engelshand, vom Entschlüsse der Verzweiflung zu-
rückgerissen — und sie waren bedauernd vorübergefahren, hatten wohl
keine Börsen bei sich, die vornehmen Damen, aber eines Wortes hätte
es nur an den Kutscher oder Lakaien bedurft, ihm eine Gabe verab¬
folgen zu lassen! Welcher Anlaß zu unvertilgbaren Selbstvorwürfen!

„Rettet ihn! rettet ihn!" schrieen besonders die Mädchen, deren
Seelen von dem ersten Nahetreten des Unglücks und Verbrechens bis
in ihre Grundfesten erschüttert waren.

Der Jokei war vom Pferde gestiegen, hatte den Baum, der leicht
zu erklimmen war, so weit erstiegen als nöthig, und schnitt mit schar¬
fem Messer den Strick durch, daß der Erhängte schwer auf die Erde
fiel. Aber nicht mit gelösten Gliedern, er war schon steif und kalt,
wie der Jokei sich überzeugte, während die Damen händeringend zu«
sahen und sich doch von dem furchtbaren Anblicke nicht losreißen
konnten.

„Hier ist nichts mehr zu machen, gnädigste Gräfin," sagte der
Jokei. „Mitnehmen können wir ihn nicht, stehlen wird ihn Niemand,
wir lassen ihn liegen und zeigen es dem Gerichte an."

Das geschah. Der Graf, ein menschenfreundlicher Mann, schickte
sogleich einen Wagen mit dem Arzte ab, und tadelte die Seinen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/162>, abgerufen am 26.06.2024.