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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Musikalien- und Kunsthandlungen überall sogleich aufhing, wo es
sich in Person kaum erblicken ließ, nicht blos hören, sondern zur
Befriedigung der Neugierde auch sehen wollte, um nach diesem
Modell in den nächsten Tagen die Haare zu tragen oder sich am
Pianoforte zu geberden.

Die Pianoforte-Virtuosen sind in der Regel -- mit sehr sel¬
tenen Ausnahmen -- das Opfer eines dreifachen Geizes oder einer
dreifachen speculativen Habsucht - der Habsucht der Eltern, der
Musikalienhändler und endlich ihrer selbst. Man hat auf der Vühne
selbst von dem Theaterwesen vielfältig die Schminke abgekratzt und
die pappenen Illusionen zerrissen, man hätte dies doch längst und
zwar recht gründlich bei dem Virtuosenwesen thun sollen. Oder ist
dies schon nach dem allgemeinen Lißtschwindel überflüssig geworden?
Sind der Welt die Augen aufgegangen und ist sie, vor Scham die
Augen schließend, darüber endlich conccrtmüde geworden und besucht
ein solches Virtuosenconcert höchstens nur noch der Langeweile und
Verdauung wegen, die wie bei der Posse und Farce durch das
Lachen, hier durch das Applaudirarbeitcn erreicht wird?

Gewöhnlich ist der Vater eines Pianoforte-Virtuosen "Klavier¬
lehrer", der sein Kind, sobald es kaum zwei Jahre alt ist, an das
Instrument setzt, es darauf schlagen läßt und -- wenn das Kind
zufällig mehrere Male eine und dieselbe Taste, vielleicht gar eine
schwarze, z. B. das berührt, vor Entzücken ausruft und verbrei¬
tet: Mein kleiner Knabe hat vortreffliches, musikalisches Gehör, er
hat ein großes Talent, er muß ein Virtuose werden! Dieses "Muß"
wird denn auch bittern Ernstes in's Werk gesetzt. Nun fängt die
Quälerei und Geistes- oder Geim'ithSabtödtung an, die kindlichen
Spieltriebe werden gewaltsam unterdrückt, die Schule wird zurück¬
gestoßen, es hat sür den Vater nichts mehr ein Interesse auf der
Welt, als die zehn-, zwölf-, vierzehnstündige Uebung des Sohnes an
jedem Tage; geht er aus, so lautet das Commando: Marsch an
das Pianoforte, Mutter zählt nach, daß du es "dreißig, fünfzig Mal
durchspielst! Kommt er heim und trifft er den Knaben zufällig in
diesem Augenblick nicht am Pianoforte, gar vor der Thüre -- so
wird die nicht fern liegende Reitpeitsche hervorgeholt, jene Zauber-
und Wünschelruthe, womit die Wunderkinder hervorgerufen und ge¬
zeitigt werden- Der unglückliche Knabe weint. Die Tasten naß,


Musikalien- und Kunsthandlungen überall sogleich aufhing, wo es
sich in Person kaum erblicken ließ, nicht blos hören, sondern zur
Befriedigung der Neugierde auch sehen wollte, um nach diesem
Modell in den nächsten Tagen die Haare zu tragen oder sich am
Pianoforte zu geberden.

Die Pianoforte-Virtuosen sind in der Regel — mit sehr sel¬
tenen Ausnahmen — das Opfer eines dreifachen Geizes oder einer
dreifachen speculativen Habsucht - der Habsucht der Eltern, der
Musikalienhändler und endlich ihrer selbst. Man hat auf der Vühne
selbst von dem Theaterwesen vielfältig die Schminke abgekratzt und
die pappenen Illusionen zerrissen, man hätte dies doch längst und
zwar recht gründlich bei dem Virtuosenwesen thun sollen. Oder ist
dies schon nach dem allgemeinen Lißtschwindel überflüssig geworden?
Sind der Welt die Augen aufgegangen und ist sie, vor Scham die
Augen schließend, darüber endlich conccrtmüde geworden und besucht
ein solches Virtuosenconcert höchstens nur noch der Langeweile und
Verdauung wegen, die wie bei der Posse und Farce durch das
Lachen, hier durch das Applaudirarbeitcn erreicht wird?

Gewöhnlich ist der Vater eines Pianoforte-Virtuosen „Klavier¬
lehrer", der sein Kind, sobald es kaum zwei Jahre alt ist, an das
Instrument setzt, es darauf schlagen läßt und — wenn das Kind
zufällig mehrere Male eine und dieselbe Taste, vielleicht gar eine
schwarze, z. B. das berührt, vor Entzücken ausruft und verbrei¬
tet: Mein kleiner Knabe hat vortreffliches, musikalisches Gehör, er
hat ein großes Talent, er muß ein Virtuose werden! Dieses „Muß"
wird denn auch bittern Ernstes in's Werk gesetzt. Nun fängt die
Quälerei und Geistes- oder Geim'ithSabtödtung an, die kindlichen
Spieltriebe werden gewaltsam unterdrückt, die Schule wird zurück¬
gestoßen, es hat sür den Vater nichts mehr ein Interesse auf der
Welt, als die zehn-, zwölf-, vierzehnstündige Uebung des Sohnes an
jedem Tage; geht er aus, so lautet das Commando: Marsch an
das Pianoforte, Mutter zählt nach, daß du es «dreißig, fünfzig Mal
durchspielst! Kommt er heim und trifft er den Knaben zufällig in
diesem Augenblick nicht am Pianoforte, gar vor der Thüre — so
wird die nicht fern liegende Reitpeitsche hervorgeholt, jene Zauber-
und Wünschelruthe, womit die Wunderkinder hervorgerufen und ge¬
zeitigt werden- Der unglückliche Knabe weint. Die Tasten naß,


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[0104] Musikalien- und Kunsthandlungen überall sogleich aufhing, wo es sich in Person kaum erblicken ließ, nicht blos hören, sondern zur Befriedigung der Neugierde auch sehen wollte, um nach diesem Modell in den nächsten Tagen die Haare zu tragen oder sich am Pianoforte zu geberden. Die Pianoforte-Virtuosen sind in der Regel — mit sehr sel¬ tenen Ausnahmen — das Opfer eines dreifachen Geizes oder einer dreifachen speculativen Habsucht - der Habsucht der Eltern, der Musikalienhändler und endlich ihrer selbst. Man hat auf der Vühne selbst von dem Theaterwesen vielfältig die Schminke abgekratzt und die pappenen Illusionen zerrissen, man hätte dies doch längst und zwar recht gründlich bei dem Virtuosenwesen thun sollen. Oder ist dies schon nach dem allgemeinen Lißtschwindel überflüssig geworden? Sind der Welt die Augen aufgegangen und ist sie, vor Scham die Augen schließend, darüber endlich conccrtmüde geworden und besucht ein solches Virtuosenconcert höchstens nur noch der Langeweile und Verdauung wegen, die wie bei der Posse und Farce durch das Lachen, hier durch das Applaudirarbeitcn erreicht wird? Gewöhnlich ist der Vater eines Pianoforte-Virtuosen „Klavier¬ lehrer", der sein Kind, sobald es kaum zwei Jahre alt ist, an das Instrument setzt, es darauf schlagen läßt und — wenn das Kind zufällig mehrere Male eine und dieselbe Taste, vielleicht gar eine schwarze, z. B. das berührt, vor Entzücken ausruft und verbrei¬ tet: Mein kleiner Knabe hat vortreffliches, musikalisches Gehör, er hat ein großes Talent, er muß ein Virtuose werden! Dieses „Muß" wird denn auch bittern Ernstes in's Werk gesetzt. Nun fängt die Quälerei und Geistes- oder Geim'ithSabtödtung an, die kindlichen Spieltriebe werden gewaltsam unterdrückt, die Schule wird zurück¬ gestoßen, es hat sür den Vater nichts mehr ein Interesse auf der Welt, als die zehn-, zwölf-, vierzehnstündige Uebung des Sohnes an jedem Tage; geht er aus, so lautet das Commando: Marsch an das Pianoforte, Mutter zählt nach, daß du es «dreißig, fünfzig Mal durchspielst! Kommt er heim und trifft er den Knaben zufällig in diesem Augenblick nicht am Pianoforte, gar vor der Thüre — so wird die nicht fern liegende Reitpeitsche hervorgeholt, jene Zauber- und Wünschelruthe, womit die Wunderkinder hervorgerufen und ge¬ zeitigt werden- Der unglückliche Knabe weint. Die Tasten naß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/104>, abgerufen am 24.11.2024.