Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihr erfolgten "geistigen Anarchie". Die Bekenner dieses Standpunktes
lassen häufig die frühere Armuth als ein unvermeidliches Uebel gelten
und treten darin mit dem oben angegebenen Standpunkte zusammen,
aber sie suchen die Beschränkung der gegenwärtigen Armuth, des Pau¬
perismus, in einer möglichst strengen Restauration der frühern bürger¬
lichen und geistigen Zustände zu empfehlen und möglich zu machen.
Dies ist der Standpunkt unserer politischen und religiösen Restaura¬
teurs in der socialen Frage. Diese Ansicht will die Gesellschaft in For¬
men zurückführen, aus denen sich dieselbe herausgelebt hat. Dem Jn-
dustrialismus und der freien Concurrenz stellt sie ein geschlossenes
mittelalterliches Gewerbswesen gegenüber und die großen Schäden,
welche im Verlaufe des modernen Entwickelungsganges hervorgetreten
sind, glaubt sie nicht anders ausrotten zu können, als daß sie über¬
haupt jeden Entwickelungsgang unmöglich macht und die chinesischen
Mauern, welche der Strom der Zeit überall mächtig durchbrochen,
überall wieder sowohl politisch, als kirchlich, als social neu zu errich¬
ten sucht. Die Geschichte geht aber niemals rückwärts, sondern immer
vorwärts. Das Ideal eines mittelalterlichen Gewerbewesens steht im
entschiedensten Widerspruch zu der großen, industriellen Bewegung der
Gegenwart, es ist eine vollkommene Unmöglichkeit geworden und am
allerwenigsten kann auf dem Wege des Privilegiums der Pauperis¬
mus beseitigt werden.

Die Anderen, welche ebenfalls die Armuth als von der Gesellschaft
verschuldet betrachten, sehen im Gegensatze zu den politischen und kirch¬
lichen Restaurateurs darin das beste Mittel, ihrer Ueberwucherung ent¬
gegen zu wirken, daß die begonnene geistige und bürgerliche Freiheit
vollendet wird. Dies ist der Standpunkt unserer Liberalen. Sie wol¬
len "blos die individuelle Freiheit und Aufklärung schützen" und er¬
weitern und die zusammenhaltende, die Freiheit allerdings erst vollen¬
dende Gemeinschaft im Ökonomischen und Geistigen sich allmältg und
stückweise eben aus der sich erweiteren Freiheit entwickeln lassen." So
sagt Karl Brüggemann. Ebenso entfernt von "socialistischer System-
macherei", wie von allen Restaurationsgedanken haben die Liberalen
ihr Augenmerk ganz besonders auf die Ausbauung der Volksschulen,
der Communications- und Creditanstalten, wie zugleich aus die mög¬
lichste Selbstverwaltung in Gemeinde und Staat gerichtet. Darin soll
nach ihnen die beste Wehr gegen den Pauperismus gefunden werden,
dahin streben und dafür schreiben sie. Einige unter ihnen sind über
diesen liberalen Standpunkt schon hinausgegangen, indem sie sich dem


Grciizl'velle. in. 1640. 38

ihr erfolgten „geistigen Anarchie". Die Bekenner dieses Standpunktes
lassen häufig die frühere Armuth als ein unvermeidliches Uebel gelten
und treten darin mit dem oben angegebenen Standpunkte zusammen,
aber sie suchen die Beschränkung der gegenwärtigen Armuth, des Pau¬
perismus, in einer möglichst strengen Restauration der frühern bürger¬
lichen und geistigen Zustände zu empfehlen und möglich zu machen.
Dies ist der Standpunkt unserer politischen und religiösen Restaura¬
teurs in der socialen Frage. Diese Ansicht will die Gesellschaft in For¬
men zurückführen, aus denen sich dieselbe herausgelebt hat. Dem Jn-
dustrialismus und der freien Concurrenz stellt sie ein geschlossenes
mittelalterliches Gewerbswesen gegenüber und die großen Schäden,
welche im Verlaufe des modernen Entwickelungsganges hervorgetreten
sind, glaubt sie nicht anders ausrotten zu können, als daß sie über¬
haupt jeden Entwickelungsgang unmöglich macht und die chinesischen
Mauern, welche der Strom der Zeit überall mächtig durchbrochen,
überall wieder sowohl politisch, als kirchlich, als social neu zu errich¬
ten sucht. Die Geschichte geht aber niemals rückwärts, sondern immer
vorwärts. Das Ideal eines mittelalterlichen Gewerbewesens steht im
entschiedensten Widerspruch zu der großen, industriellen Bewegung der
Gegenwart, es ist eine vollkommene Unmöglichkeit geworden und am
allerwenigsten kann auf dem Wege des Privilegiums der Pauperis¬
mus beseitigt werden.

Die Anderen, welche ebenfalls die Armuth als von der Gesellschaft
verschuldet betrachten, sehen im Gegensatze zu den politischen und kirch¬
lichen Restaurateurs darin das beste Mittel, ihrer Ueberwucherung ent¬
gegen zu wirken, daß die begonnene geistige und bürgerliche Freiheit
vollendet wird. Dies ist der Standpunkt unserer Liberalen. Sie wol¬
len „blos die individuelle Freiheit und Aufklärung schützen" und er¬
weitern und die zusammenhaltende, die Freiheit allerdings erst vollen¬
dende Gemeinschaft im Ökonomischen und Geistigen sich allmältg und
stückweise eben aus der sich erweiteren Freiheit entwickeln lassen." So
sagt Karl Brüggemann. Ebenso entfernt von „socialistischer System-
macherei", wie von allen Restaurationsgedanken haben die Liberalen
ihr Augenmerk ganz besonders auf die Ausbauung der Volksschulen,
der Communications- und Creditanstalten, wie zugleich aus die mög¬
lichste Selbstverwaltung in Gemeinde und Staat gerichtet. Darin soll
nach ihnen die beste Wehr gegen den Pauperismus gefunden werden,
dahin streben und dafür schreiben sie. Einige unter ihnen sind über
diesen liberalen Standpunkt schon hinausgegangen, indem sie sich dem


Grciizl'velle. in. 1640. 38
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0289" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183310"/>
            <p xml:id="ID_871" prev="#ID_870"> ihr erfolgten &#x201E;geistigen Anarchie". Die Bekenner dieses Standpunktes<lb/>
lassen häufig die frühere Armuth als ein unvermeidliches Uebel gelten<lb/>
und treten darin mit dem oben angegebenen Standpunkte zusammen,<lb/>
aber sie suchen die Beschränkung der gegenwärtigen Armuth, des Pau¬<lb/>
perismus, in einer möglichst strengen Restauration der frühern bürger¬<lb/>
lichen und geistigen Zustände zu empfehlen und möglich zu machen.<lb/>
Dies ist der Standpunkt unserer politischen und religiösen Restaura¬<lb/>
teurs in der socialen Frage. Diese Ansicht will die Gesellschaft in For¬<lb/>
men zurückführen, aus denen sich dieselbe herausgelebt hat. Dem Jn-<lb/>
dustrialismus und der freien Concurrenz stellt sie ein geschlossenes<lb/>
mittelalterliches Gewerbswesen gegenüber und die großen Schäden,<lb/>
welche im Verlaufe des modernen Entwickelungsganges hervorgetreten<lb/>
sind, glaubt sie nicht anders ausrotten zu können, als daß sie über¬<lb/>
haupt jeden Entwickelungsgang unmöglich macht und die chinesischen<lb/>
Mauern, welche der Strom der Zeit überall mächtig durchbrochen,<lb/>
überall wieder sowohl politisch, als kirchlich, als social neu zu errich¬<lb/>
ten sucht. Die Geschichte geht aber niemals rückwärts, sondern immer<lb/>
vorwärts. Das Ideal eines mittelalterlichen Gewerbewesens steht im<lb/>
entschiedensten Widerspruch zu der großen, industriellen Bewegung der<lb/>
Gegenwart, es ist eine vollkommene Unmöglichkeit geworden und am<lb/>
allerwenigsten kann auf dem Wege des Privilegiums der Pauperis¬<lb/>
mus beseitigt werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_872" next="#ID_873"> Die Anderen, welche ebenfalls die Armuth als von der Gesellschaft<lb/>
verschuldet betrachten, sehen im Gegensatze zu den politischen und kirch¬<lb/>
lichen Restaurateurs darin das beste Mittel, ihrer Ueberwucherung ent¬<lb/>
gegen zu wirken, daß die begonnene geistige und bürgerliche Freiheit<lb/>
vollendet wird. Dies ist der Standpunkt unserer Liberalen. Sie wol¬<lb/>
len &#x201E;blos die individuelle Freiheit und Aufklärung schützen" und er¬<lb/>
weitern und die zusammenhaltende, die Freiheit allerdings erst vollen¬<lb/>
dende Gemeinschaft im Ökonomischen und Geistigen sich allmältg und<lb/>
stückweise eben aus der sich erweiteren Freiheit entwickeln lassen." So<lb/>
sagt Karl Brüggemann. Ebenso entfernt von &#x201E;socialistischer System-<lb/>
macherei", wie von allen Restaurationsgedanken haben die Liberalen<lb/>
ihr Augenmerk ganz besonders auf die Ausbauung der Volksschulen,<lb/>
der Communications- und Creditanstalten, wie zugleich aus die mög¬<lb/>
lichste Selbstverwaltung in Gemeinde und Staat gerichtet. Darin soll<lb/>
nach ihnen die beste Wehr gegen den Pauperismus gefunden werden,<lb/>
dahin streben und dafür schreiben sie. Einige unter ihnen sind über<lb/>
diesen liberalen Standpunkt schon hinausgegangen, indem sie sich dem</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grciizl'velle. in. 1640. 38</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0289] ihr erfolgten „geistigen Anarchie". Die Bekenner dieses Standpunktes lassen häufig die frühere Armuth als ein unvermeidliches Uebel gelten und treten darin mit dem oben angegebenen Standpunkte zusammen, aber sie suchen die Beschränkung der gegenwärtigen Armuth, des Pau¬ perismus, in einer möglichst strengen Restauration der frühern bürger¬ lichen und geistigen Zustände zu empfehlen und möglich zu machen. Dies ist der Standpunkt unserer politischen und religiösen Restaura¬ teurs in der socialen Frage. Diese Ansicht will die Gesellschaft in For¬ men zurückführen, aus denen sich dieselbe herausgelebt hat. Dem Jn- dustrialismus und der freien Concurrenz stellt sie ein geschlossenes mittelalterliches Gewerbswesen gegenüber und die großen Schäden, welche im Verlaufe des modernen Entwickelungsganges hervorgetreten sind, glaubt sie nicht anders ausrotten zu können, als daß sie über¬ haupt jeden Entwickelungsgang unmöglich macht und die chinesischen Mauern, welche der Strom der Zeit überall mächtig durchbrochen, überall wieder sowohl politisch, als kirchlich, als social neu zu errich¬ ten sucht. Die Geschichte geht aber niemals rückwärts, sondern immer vorwärts. Das Ideal eines mittelalterlichen Gewerbewesens steht im entschiedensten Widerspruch zu der großen, industriellen Bewegung der Gegenwart, es ist eine vollkommene Unmöglichkeit geworden und am allerwenigsten kann auf dem Wege des Privilegiums der Pauperis¬ mus beseitigt werden. Die Anderen, welche ebenfalls die Armuth als von der Gesellschaft verschuldet betrachten, sehen im Gegensatze zu den politischen und kirch¬ lichen Restaurateurs darin das beste Mittel, ihrer Ueberwucherung ent¬ gegen zu wirken, daß die begonnene geistige und bürgerliche Freiheit vollendet wird. Dies ist der Standpunkt unserer Liberalen. Sie wol¬ len „blos die individuelle Freiheit und Aufklärung schützen" und er¬ weitern und die zusammenhaltende, die Freiheit allerdings erst vollen¬ dende Gemeinschaft im Ökonomischen und Geistigen sich allmältg und stückweise eben aus der sich erweiteren Freiheit entwickeln lassen." So sagt Karl Brüggemann. Ebenso entfernt von „socialistischer System- macherei", wie von allen Restaurationsgedanken haben die Liberalen ihr Augenmerk ganz besonders auf die Ausbauung der Volksschulen, der Communications- und Creditanstalten, wie zugleich aus die mög¬ lichste Selbstverwaltung in Gemeinde und Staat gerichtet. Darin soll nach ihnen die beste Wehr gegen den Pauperismus gefunden werden, dahin streben und dafür schreiben sie. Einige unter ihnen sind über diesen liberalen Standpunkt schon hinausgegangen, indem sie sich dem Grciizl'velle. in. 1640. 38

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/289
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/289>, abgerufen am 24.07.2024.