Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Se. Ren" Taillandier
über Roman und Kritik in Deutschland. ^)



Ungeachtet der Bewunderung, welche in unserem Frankreich die
Modeschriftsteller für sich selbst haben, ungeachtet der Hymnen, die ihre
gehorsamen Jünger zu ihrem Lobe anstimmen, macht doch der Zustand
der Poesie und der schönen Literatur mit Recht die nachsichtigsten Gei¬
ster besorgt, und nur ein Blick auf die Nachbarvölker vermag uns
über unsern eignen Verfall zu trösten. Freilich ein schlechter Trost:
man möchte gern für das, was uns hier fehlt, einen Ersatz in Eng¬
land oder Deutschland suchen und, wie Frau von Stank, den letzten
Werken einer abgestorbenen Literatur die belebenden Muster Goethe'S
oder Jean Paul's entgegenstellen. Aber dieser Ersatz ist uns versagt:
weder England, noch Deutschland, noch Spanien, noch Italien ver¬
mögen uns das zu gewähren, was wir vergebens bei uns selbst
suchen. Man kann nicht läugnen, daß die geistige Bildung an Tiefe
und Breite zunimmt und daß namentlich die Gleichmäßigkeit der all¬
gemeinen Bildung im Steigen begriffen ist. So ist z. B. die poli¬
tische Rührigkeit Deutschlands ein lebendiges Schauspiel, das unserer
ganzen Theilnahme würdig ist. Die Geschichte, das Recht, ti? mo¬
ralischen Wissenschaften werden mit Eifer gepflegt: ein gewisses Ta¬
lent zweiten Ranges (?!) tritt in den verschiedensten Richtungen in
Fülle hervor und ein lebendiger geistiger Strom circulirt nach tausend
Seiten hin, dessen Studium das höchste Interesse darbietet. Aber
kann uns dies befriedigen? Wo sind unter dieser täglich wachsenden



*) Aus der Revue 6e" äsux wonach.
S'renzb-den, UI. 18"0.S
Se. Ren« Taillandier
über Roman und Kritik in Deutschland. ^)



Ungeachtet der Bewunderung, welche in unserem Frankreich die
Modeschriftsteller für sich selbst haben, ungeachtet der Hymnen, die ihre
gehorsamen Jünger zu ihrem Lobe anstimmen, macht doch der Zustand
der Poesie und der schönen Literatur mit Recht die nachsichtigsten Gei¬
ster besorgt, und nur ein Blick auf die Nachbarvölker vermag uns
über unsern eignen Verfall zu trösten. Freilich ein schlechter Trost:
man möchte gern für das, was uns hier fehlt, einen Ersatz in Eng¬
land oder Deutschland suchen und, wie Frau von Stank, den letzten
Werken einer abgestorbenen Literatur die belebenden Muster Goethe'S
oder Jean Paul's entgegenstellen. Aber dieser Ersatz ist uns versagt:
weder England, noch Deutschland, noch Spanien, noch Italien ver¬
mögen uns das zu gewähren, was wir vergebens bei uns selbst
suchen. Man kann nicht läugnen, daß die geistige Bildung an Tiefe
und Breite zunimmt und daß namentlich die Gleichmäßigkeit der all¬
gemeinen Bildung im Steigen begriffen ist. So ist z. B. die poli¬
tische Rührigkeit Deutschlands ein lebendiges Schauspiel, das unserer
ganzen Theilnahme würdig ist. Die Geschichte, das Recht, ti? mo¬
ralischen Wissenschaften werden mit Eifer gepflegt: ein gewisses Ta¬
lent zweiten Ranges (?!) tritt in den verschiedensten Richtungen in
Fülle hervor und ein lebendiger geistiger Strom circulirt nach tausend
Seiten hin, dessen Studium das höchste Interesse darbietet. Aber
kann uns dies befriedigen? Wo sind unter dieser täglich wachsenden



*) Aus der Revue 6e» äsux wonach.
S'renzb-den, UI. 18«0.S
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183046"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head><note type="byline"> Se. Ren« Taillandier</note><lb/>
über Roman und Kritik in Deutschland. ^)</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_31" next="#ID_32"> Ungeachtet der Bewunderung, welche in unserem Frankreich die<lb/>
Modeschriftsteller für sich selbst haben, ungeachtet der Hymnen, die ihre<lb/>
gehorsamen Jünger zu ihrem Lobe anstimmen, macht doch der Zustand<lb/>
der Poesie und der schönen Literatur mit Recht die nachsichtigsten Gei¬<lb/>
ster besorgt, und nur ein Blick auf die Nachbarvölker vermag uns<lb/>
über unsern eignen Verfall zu trösten. Freilich ein schlechter Trost:<lb/>
man möchte gern für das, was uns hier fehlt, einen Ersatz in Eng¬<lb/>
land oder Deutschland suchen und, wie Frau von Stank, den letzten<lb/>
Werken einer abgestorbenen Literatur die belebenden Muster Goethe'S<lb/>
oder Jean Paul's entgegenstellen. Aber dieser Ersatz ist uns versagt:<lb/>
weder England, noch Deutschland, noch Spanien, noch Italien ver¬<lb/>
mögen uns das zu gewähren, was wir vergebens bei uns selbst<lb/>
suchen. Man kann nicht läugnen, daß die geistige Bildung an Tiefe<lb/>
und Breite zunimmt und daß namentlich die Gleichmäßigkeit der all¬<lb/>
gemeinen Bildung im Steigen begriffen ist. So ist z. B. die poli¬<lb/>
tische Rührigkeit Deutschlands ein lebendiges Schauspiel, das unserer<lb/>
ganzen Theilnahme würdig ist. Die Geschichte, das Recht, ti? mo¬<lb/>
ralischen Wissenschaften werden mit Eifer gepflegt: ein gewisses Ta¬<lb/>
lent zweiten Ranges (?!) tritt in den verschiedensten Richtungen in<lb/>
Fülle hervor und ein lebendiger geistiger Strom circulirt nach tausend<lb/>
Seiten hin, dessen Studium das höchste Interesse darbietet. Aber<lb/>
kann uns dies befriedigen?  Wo sind unter dieser täglich wachsenden</p><lb/>
          <note xml:id="FID_2" place="foot"> *) Aus der Revue 6e» äsux wonach.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> S'renzb-den, UI. 18«0.S</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Se. Ren« Taillandier über Roman und Kritik in Deutschland. ^) Ungeachtet der Bewunderung, welche in unserem Frankreich die Modeschriftsteller für sich selbst haben, ungeachtet der Hymnen, die ihre gehorsamen Jünger zu ihrem Lobe anstimmen, macht doch der Zustand der Poesie und der schönen Literatur mit Recht die nachsichtigsten Gei¬ ster besorgt, und nur ein Blick auf die Nachbarvölker vermag uns über unsern eignen Verfall zu trösten. Freilich ein schlechter Trost: man möchte gern für das, was uns hier fehlt, einen Ersatz in Eng¬ land oder Deutschland suchen und, wie Frau von Stank, den letzten Werken einer abgestorbenen Literatur die belebenden Muster Goethe'S oder Jean Paul's entgegenstellen. Aber dieser Ersatz ist uns versagt: weder England, noch Deutschland, noch Spanien, noch Italien ver¬ mögen uns das zu gewähren, was wir vergebens bei uns selbst suchen. Man kann nicht läugnen, daß die geistige Bildung an Tiefe und Breite zunimmt und daß namentlich die Gleichmäßigkeit der all¬ gemeinen Bildung im Steigen begriffen ist. So ist z. B. die poli¬ tische Rührigkeit Deutschlands ein lebendiges Schauspiel, das unserer ganzen Theilnahme würdig ist. Die Geschichte, das Recht, ti? mo¬ ralischen Wissenschaften werden mit Eifer gepflegt: ein gewisses Ta¬ lent zweiten Ranges (?!) tritt in den verschiedensten Richtungen in Fülle hervor und ein lebendiger geistiger Strom circulirt nach tausend Seiten hin, dessen Studium das höchste Interesse darbietet. Aber kann uns dies befriedigen? Wo sind unter dieser täglich wachsenden *) Aus der Revue 6e» äsux wonach. S'renzb-den, UI. 18«0.S

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/25>, abgerufen am 24.07.2024.