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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Dingen aber der ganz ohnmächtig gewordenen b erliner Presse, haben
die Entwickelung vollständig organisirter Parteien stets aufgehalten.
Daß dadurch auch die innere Entwickelung des politischen und socialen
Geistes gestört worden sei, glauben wir nicht, überhaupt scheint es
uns, als sei von dem vulgären Liberalismus das Wort Partei man-
nichfach und als eine ungerechte Beschränkung der persönlichen Frei¬
heit gemißbraucht worden. Das gedankenlose Anschließen an eine
der mächtigen, politisch-berechtigten Parteien, wie wir es in Frankreich
und England alle Tage gewahren, das wohlgefällige Nachlallen be¬
stimmter Dogmen und Stichwörter, wie es selbst in konstitutionellen
Ländern Deutschlands Mode geworden, ist einer durchgreifenden Ent¬
wickelung des ganzen Volksbewußtseins vielleicht weit hinderlicher, als
ein Zustand, in dem die Existenz der Parteien jeden Augenblick in
Frage gestellt wird und in dem sich die Bewegung stets in einem kri¬
tisch-individuellen Processe erhalten muß. Der Entwickelungsproceß
Preußens ist deshalb vielleicht tiefer und weit umfassender, als der,
welcher in den übrigen Staaten Deutschlands stattfindet.

Jede Bewegung, jede Entwickelung hat aber mit dem schweren,
dickblütigen Niederschlag des Lebens, mit der rein vegetativen Natur
des Menschen, mit dem Jndifferentismus zu kämpfen. Ohne diesen Jn-
differentismus, der beinahe eine historische Berechtigung in Anspruch
nimmt, hätten sich mindestens die drei letzten Jahrhunderte der euro¬
päischen Geschichte in ganz riesenmäßigen Contouren entwickeln müssen.
Aber die großartigsten Ideen stießen immer auf den trägen Wider¬
willen der Masse und auf diesen Widerwillen der Masse gegen jede
Bewegung, auf die Faulthiersnatur des Menschen stützten sich dann
immer die Kräfte, denen die Erhaltung des bestehenden Zustandes eins
den einen oder den andern Gründen als wünschenswerth erschien. Das
seine Blut- und Nervenleben der Geschichte findet einen regelmäßigen
Widerstand bei den niedrigen Lebenssubstanzen.

Allerdings, auch in dem Jndifferentismus der Masse wird das
feinbegabte Auge des Geschichtsdenkers ein Element der Fortbewegung
entdecken können und dies eben ist das Wunderbare, das Göttliche der
Geschichte. Denn dies Element wird nicht durch Eine Partei, nicht
durch alle ihre noch so öffentlichen oder noch so geheimen Manipula¬
tionen befruchtet. Nein, dieses Element wirkt nur der ganze Charakter
Der Zeit, jene elektrische, Geschichte-machende Kraft, die auf den Höhen
einer Zeitperiode, aus der Reibung aller geistigen Fähigketten sich ent¬
wickelt und sich dann auch in die dunkelnden Thäler und Schluchten


Dingen aber der ganz ohnmächtig gewordenen b erliner Presse, haben
die Entwickelung vollständig organisirter Parteien stets aufgehalten.
Daß dadurch auch die innere Entwickelung des politischen und socialen
Geistes gestört worden sei, glauben wir nicht, überhaupt scheint es
uns, als sei von dem vulgären Liberalismus das Wort Partei man-
nichfach und als eine ungerechte Beschränkung der persönlichen Frei¬
heit gemißbraucht worden. Das gedankenlose Anschließen an eine
der mächtigen, politisch-berechtigten Parteien, wie wir es in Frankreich
und England alle Tage gewahren, das wohlgefällige Nachlallen be¬
stimmter Dogmen und Stichwörter, wie es selbst in konstitutionellen
Ländern Deutschlands Mode geworden, ist einer durchgreifenden Ent¬
wickelung des ganzen Volksbewußtseins vielleicht weit hinderlicher, als
ein Zustand, in dem die Existenz der Parteien jeden Augenblick in
Frage gestellt wird und in dem sich die Bewegung stets in einem kri¬
tisch-individuellen Processe erhalten muß. Der Entwickelungsproceß
Preußens ist deshalb vielleicht tiefer und weit umfassender, als der,
welcher in den übrigen Staaten Deutschlands stattfindet.

Jede Bewegung, jede Entwickelung hat aber mit dem schweren,
dickblütigen Niederschlag des Lebens, mit der rein vegetativen Natur
des Menschen, mit dem Jndifferentismus zu kämpfen. Ohne diesen Jn-
differentismus, der beinahe eine historische Berechtigung in Anspruch
nimmt, hätten sich mindestens die drei letzten Jahrhunderte der euro¬
päischen Geschichte in ganz riesenmäßigen Contouren entwickeln müssen.
Aber die großartigsten Ideen stießen immer auf den trägen Wider¬
willen der Masse und auf diesen Widerwillen der Masse gegen jede
Bewegung, auf die Faulthiersnatur des Menschen stützten sich dann
immer die Kräfte, denen die Erhaltung des bestehenden Zustandes eins
den einen oder den andern Gründen als wünschenswerth erschien. Das
seine Blut- und Nervenleben der Geschichte findet einen regelmäßigen
Widerstand bei den niedrigen Lebenssubstanzen.

Allerdings, auch in dem Jndifferentismus der Masse wird das
feinbegabte Auge des Geschichtsdenkers ein Element der Fortbewegung
entdecken können und dies eben ist das Wunderbare, das Göttliche der
Geschichte. Denn dies Element wird nicht durch Eine Partei, nicht
durch alle ihre noch so öffentlichen oder noch so geheimen Manipula¬
tionen befruchtet. Nein, dieses Element wirkt nur der ganze Charakter
Der Zeit, jene elektrische, Geschichte-machende Kraft, die auf den Höhen
einer Zeitperiode, aus der Reibung aller geistigen Fähigketten sich ent¬
wickelt und sich dann auch in die dunkelnden Thäler und Schluchten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/196>, abgerufen am 04.07.2024.