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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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nicht, speculiren nicht. Sie haben die Natur nicht ausgesogen, ihre
wunderbare Kraft nicht gelähmt, sondern träumten ruhig fort in
ihrem Schoße, nahmen nur was der Augenblick verlangte, verließen
sich auf ihre Großmuth und blieben unter ihrer milden Vormund¬
schaft. Sie haben auch den babylonischen Thurm der Erkenntniß
nicht weiter gebaut und den Himmel nicht gestürmt, darum haben
sie noch einen.

Ohne Scherz, das Morgenland hat noch einen Himmel, wie
vor drei oder viertausend Jahren, einen Himmel im biblischen Sinne
des Wortes. Wer es nicht glgubcn will, der lese die Zeitungen.
Seltsam genug, daß diese Kinder der modernsten Prosa solche wun¬
derbare Botschaft bringen müssen. Im (^""i>!i- et>- (^""wulln"^!?,
wie in englischen und französischen Blattern, wird vom 24. Januar
aus Kleinasien berichtet: Es war Noth und Theurung im Lande.
Man hatte zwar keine Aufstände und Unruhen zu befürchten, denn
der Hunger war nicht künstlich erzeugt durch Proletarierzustände, son¬
dern ein natürlicher, der alle Menschen traf; es wurden auch keine
Sammlungen veranstaltet und die Reichen tanzten nicht zum Besten
der Armen. Polizei- und andere Behörden waren unthätig, aber
der Himmel erbarmte sich und ließ Manna fallen mehrere Tage lang;
schöne, kostbare Manna in Stücken von Haselnußgröße und in reich¬
licher Menge, wie zu jenen Zeiten, als die Kinder Israel durch die
Wüste zogen.

Ach, warum fallt bei uns kein Manna vom Himmel? Warum
nicht auf Schlesien, auf Irland oder auf Sicilien? Diese beiden In¬
seln sind ja fromm und gläubig. Unser Himmel aber ist alt und
schwach; selbst der bunteste Glaube kann ihn nicht mehr bewegen, in
das irdische Regiment sich einzumischen. Helft Euch selbst, sagt er.
Eine Regierung, die für das materielle Wohl ihrer Unterthanen sorgt,
beugt allen Revolutionen vor, und ließe der Himmel bei uns in Zei¬
ten der Noth seine Brote herunterrcgnen, so würde gewiß alle Phi¬
losophie ein Ende haben und Tausende würden sich bekehren.

Und doch, wer weiß! Selbst die mährchenhafte, aber authenti¬
sche Kunde aus Kleinasien hat einen Nachsatz, der nichts weniger als
an die Zeiten der Wüstenwanderung Mosis erinnert, sondern gewal¬
tig nach der Prosa europäischer Civilisation schmeckt. Man höre!
Die himmlische Gabe war schnell zu einem Handelsartikel wie jeder
andere geworden; "die Manna," heißt es, "wurde zu 12 Piaster der
Kilo verkauft, wie das Getreide;" wahrscheinlich sind die Einsamm-
ler und Verkäufer auch mit einer Steuer belegt worden. -- Aber
das Allerschönste ist, daß ein französischer Naturforscher in Jenischehr
sich sogleich an eine chemische Untersuchung des himmlischen Segens
gemacht hat, um die wunderbare Erscheinung auf eine natürliche
Weise zu erklären. So wird die Bilderfibel nun um ein Wunder
armer werden!


nicht, speculiren nicht. Sie haben die Natur nicht ausgesogen, ihre
wunderbare Kraft nicht gelähmt, sondern träumten ruhig fort in
ihrem Schoße, nahmen nur was der Augenblick verlangte, verließen
sich auf ihre Großmuth und blieben unter ihrer milden Vormund¬
schaft. Sie haben auch den babylonischen Thurm der Erkenntniß
nicht weiter gebaut und den Himmel nicht gestürmt, darum haben
sie noch einen.

Ohne Scherz, das Morgenland hat noch einen Himmel, wie
vor drei oder viertausend Jahren, einen Himmel im biblischen Sinne
des Wortes. Wer es nicht glgubcn will, der lese die Zeitungen.
Seltsam genug, daß diese Kinder der modernsten Prosa solche wun¬
derbare Botschaft bringen müssen. Im (^»»i>!i- et>- (^»«wulln»^!?,
wie in englischen und französischen Blattern, wird vom 24. Januar
aus Kleinasien berichtet: Es war Noth und Theurung im Lande.
Man hatte zwar keine Aufstände und Unruhen zu befürchten, denn
der Hunger war nicht künstlich erzeugt durch Proletarierzustände, son¬
dern ein natürlicher, der alle Menschen traf; es wurden auch keine
Sammlungen veranstaltet und die Reichen tanzten nicht zum Besten
der Armen. Polizei- und andere Behörden waren unthätig, aber
der Himmel erbarmte sich und ließ Manna fallen mehrere Tage lang;
schöne, kostbare Manna in Stücken von Haselnußgröße und in reich¬
licher Menge, wie zu jenen Zeiten, als die Kinder Israel durch die
Wüste zogen.

Ach, warum fallt bei uns kein Manna vom Himmel? Warum
nicht auf Schlesien, auf Irland oder auf Sicilien? Diese beiden In¬
seln sind ja fromm und gläubig. Unser Himmel aber ist alt und
schwach; selbst der bunteste Glaube kann ihn nicht mehr bewegen, in
das irdische Regiment sich einzumischen. Helft Euch selbst, sagt er.
Eine Regierung, die für das materielle Wohl ihrer Unterthanen sorgt,
beugt allen Revolutionen vor, und ließe der Himmel bei uns in Zei¬
ten der Noth seine Brote herunterrcgnen, so würde gewiß alle Phi¬
losophie ein Ende haben und Tausende würden sich bekehren.

Und doch, wer weiß! Selbst die mährchenhafte, aber authenti¬
sche Kunde aus Kleinasien hat einen Nachsatz, der nichts weniger als
an die Zeiten der Wüstenwanderung Mosis erinnert, sondern gewal¬
tig nach der Prosa europäischer Civilisation schmeckt. Man höre!
Die himmlische Gabe war schnell zu einem Handelsartikel wie jeder
andere geworden; „die Manna," heißt es, „wurde zu 12 Piaster der
Kilo verkauft, wie das Getreide;" wahrscheinlich sind die Einsamm-
ler und Verkäufer auch mit einer Steuer belegt worden. — Aber
das Allerschönste ist, daß ein französischer Naturforscher in Jenischehr
sich sogleich an eine chemische Untersuchung des himmlischen Segens
gemacht hat, um die wunderbare Erscheinung auf eine natürliche
Weise zu erklären. So wird die Bilderfibel nun um ein Wunder
armer werden!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/477>, abgerufen am 22.12.2024.