Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.nigstcnS meinem künstigen Dichter oder Geschichtschreiber sein Ma¬ Ich muß beginnen. Es war zwei Tage nach der Sonnenfin- nigstcnS meinem künstigen Dichter oder Geschichtschreiber sein Ma¬ Ich muß beginnen. Es war zwei Tage nach der Sonnenfin- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182204"/> <p xml:id="ID_894" prev="#ID_893"> nigstcnS meinem künstigen Dichter oder Geschichtschreiber sein Ma¬<lb/> terial liefern. — Ja, ich bin ein zweiter Odysseus, denn die Poli¬<lb/> zei birgt in ihrem viel verhüllenden Schoße all die Gefahren, die<lb/> diesen irrenden Ritter von Hellas zehn Jahre in aller Welt her¬<lb/> umgetrieben; sie'.heilt lotophagisch den Reisenden mit unsichtbarem Netze<lb/> zurück, wo sie will; sie kann süß sein und verführerisch wieKalupso; sie<lb/> läßt ungehindert nur Schöpfe passiren, wie Polyphem, sie wirst Einem<lb/> wie dieser Niese Felsen in Gestalt von Steckbriefen nach, daß das<lb/> schwache Fahrzeug erbebt; sie erregt Stürme bei heitersten Wetter,<lb/> sie verwandelt, wie Circe, Menschen in Schweinehund nur schla¬<lb/> fend laßt sie Einen sein Vaterland betteten. Erfährt der Leser in<lb/> Folge noch, daß mich meine Irrfahrten durch wahrhaft gelobte<lb/> Länder der Polizei führten, so bin ich seiner Bewunderung und mei¬<lb/> ner Unsterblichkeit gewiß. Ich will hier also nichts von den Rei¬<lb/> zen Steiermarks, von den Wundern der Adelsberger Grotte, von<lb/> den Wüsten des Karstes, von den Geheimnissen des Adriatischen<lb/> Meeres, von den „Seufzern" Venedigs, dem Zauber des Comer<lb/> Sees, den Herrlichkeiten der Alpen, ich will hier nichts über Mün¬<lb/> chen und seine Kunst sagen, einzig singen und sagen will ich, wie<lb/> ich mich heldenmüthig, ein Ulysses, ein Gottfried Bouillon, ein<lb/> Benjowskv, durch hundert Polizeiburealls, ohne Paß, ohne Protec-<lb/> tion geschlagen und endlich doch an mein Ziel gelangte; denn was<lb/> sind alle Wunder der Natur und der Kunst gegen die Offenbarun¬<lb/> gen eines heldmüthigen Herzens!</p><lb/> <p xml:id="ID_895" next="#ID_896"> Ich muß beginnen. Es war zwei Tage nach der Sonnenfin-<lb/> sterniß, die in Wien total war, (man sieht, meine Reise war wie<lb/> der römische Bürgerkrieg, die Allsrüstung der Armada, der Aus¬<lb/> bruch des Hussitenkampfes, und wie alle großen Ereignisse, durch<lb/> eine grandiose Naturerscheinung eingeleitet), also es war zwei<lb/> Tage nach der totalen Sonnenfinsterniß, als ich, ein schlechtes<lb/> Stück Papier in der Hand, auf dem Paßbureau der k. k. Polizei<lb/> in Wien an zwei Stunden wartete. Noch vor wenigen Tagen war<lb/> ich Student gewesen, heute war ich schon Philister, wenn es nicht<lb/> zu gewagt ist, zwischen einem Studenten in Wien und einem Phi¬<lb/> lister einen Unterschied zu machen, hier wo alle Philister ewig stu-<lb/> dentikoS, und alle Studenten obligate Philister sind.. Schon hatte<lb/> ich eine Stelle, die ich in drei Monaten antreten sollte. Diese</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0394]
nigstcnS meinem künstigen Dichter oder Geschichtschreiber sein Ma¬
terial liefern. — Ja, ich bin ein zweiter Odysseus, denn die Poli¬
zei birgt in ihrem viel verhüllenden Schoße all die Gefahren, die
diesen irrenden Ritter von Hellas zehn Jahre in aller Welt her¬
umgetrieben; sie'.heilt lotophagisch den Reisenden mit unsichtbarem Netze
zurück, wo sie will; sie kann süß sein und verführerisch wieKalupso; sie
läßt ungehindert nur Schöpfe passiren, wie Polyphem, sie wirst Einem
wie dieser Niese Felsen in Gestalt von Steckbriefen nach, daß das
schwache Fahrzeug erbebt; sie erregt Stürme bei heitersten Wetter,
sie verwandelt, wie Circe, Menschen in Schweinehund nur schla¬
fend laßt sie Einen sein Vaterland betteten. Erfährt der Leser in
Folge noch, daß mich meine Irrfahrten durch wahrhaft gelobte
Länder der Polizei führten, so bin ich seiner Bewunderung und mei¬
ner Unsterblichkeit gewiß. Ich will hier also nichts von den Rei¬
zen Steiermarks, von den Wundern der Adelsberger Grotte, von
den Wüsten des Karstes, von den Geheimnissen des Adriatischen
Meeres, von den „Seufzern" Venedigs, dem Zauber des Comer
Sees, den Herrlichkeiten der Alpen, ich will hier nichts über Mün¬
chen und seine Kunst sagen, einzig singen und sagen will ich, wie
ich mich heldenmüthig, ein Ulysses, ein Gottfried Bouillon, ein
Benjowskv, durch hundert Polizeiburealls, ohne Paß, ohne Protec-
tion geschlagen und endlich doch an mein Ziel gelangte; denn was
sind alle Wunder der Natur und der Kunst gegen die Offenbarun¬
gen eines heldmüthigen Herzens!
Ich muß beginnen. Es war zwei Tage nach der Sonnenfin-
sterniß, die in Wien total war, (man sieht, meine Reise war wie
der römische Bürgerkrieg, die Allsrüstung der Armada, der Aus¬
bruch des Hussitenkampfes, und wie alle großen Ereignisse, durch
eine grandiose Naturerscheinung eingeleitet), also es war zwei
Tage nach der totalen Sonnenfinsterniß, als ich, ein schlechtes
Stück Papier in der Hand, auf dem Paßbureau der k. k. Polizei
in Wien an zwei Stunden wartete. Noch vor wenigen Tagen war
ich Student gewesen, heute war ich schon Philister, wenn es nicht
zu gewagt ist, zwischen einem Studenten in Wien und einem Phi¬
lister einen Unterschied zu machen, hier wo alle Philister ewig stu-
dentikoS, und alle Studenten obligate Philister sind.. Schon hatte
ich eine Stelle, die ich in drei Monaten antreten sollte. Diese
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