Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.Trotzdem aber blieb mir der Name Grillparzer als Jugenderiime- Trotzdem aber blieb mir der Name Grillparzer als Jugenderiime- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182128"/> <p xml:id="ID_715" prev="#ID_714" next="#ID_716"> Trotzdem aber blieb mir der Name Grillparzer als Jugenderiime-<lb/> rung ein sehr lieber Name, und so oft ich ihn in einem literari¬<lb/> schen Buche genannt sah, verschlang ich das von ihm Gesagte mit<lb/> innigstem Interesse. Aber leider sprach man fast immer nur von<lb/> seiner „Ahnfrau," und ich gestehe es zu meiner Schande, vielleicht<lb/> auch zur kleinen Beschämung Norddeutschlands, daß ich dieses Trauer¬<lb/> spiel für Grillparzers einziges Werk hielt, oder wenigstens sür sein<lb/> bedeutendstes, da man wohl hie und da noch manchen Titel eines<lb/> Grillparzerschen Dramas nannte, aber nie dabei mit Anerkennung<lb/> verweilte. Meine Neise nach Wien und mein zehnmonatlicher Aufent¬<lb/> halt in dieser verführerischen Stadt belehrten mich eines anderen<lb/> und besseren, und zwar fing meine Belehrung gleich mit dem ersten<lb/> Abende, den ich daselbst zubrachte, an. Ich wollte nicht gleich nach<lb/> meiner Ankunft Visiten machen und sah Mich nach dem Theaterzet¬<lb/> tel um. Man gab im Burgtheater „Sappho" Trauerspiel von<lb/> Grillparzer. Mit welcher Freude ich dahin eilte, brauche ich wohl<lb/> nicht erst zu schildern: ich sollte ja die weitere Bekanntschaft des<lb/> Dichters meiner Jugend machen! Man spielte sehr mittelmäßig.<lb/> Doch war ich beim Nachhausegehen aus dem Burgtheater in in¬<lb/> nerster Seele erfreut; ich hatte ein poesievolles, würde- und anmuth¬<lb/> reiches Drama gesehen, welches griechische Plastik und deutsche<lb/> Tiefe und Romantik auf die schönste Weise vereinigte. — Niemals<lb/> hätte ich geglaubt, daß der Verfasser der schauerlichen, nächtigen<lb/> „Ahnfrau" Vater einer solchen Dichtung werden könne. Das<lb/> glaubt man in Norddeutschland auch nicht, wo man immer nur<lb/> vom ersten Jugendwerke Grillparzers spricht, und giebt sich nicht<lb/> einmal Mühe sich diese Ueberzeugung zu verschaffen. Aber man<lb/> ist gestraft dafür, denn man bleibt um einen großen Dichter ärmer,<lb/> und läßt die „materiellen" Wiener, auf die man so' stolz herabsieht,<lb/> in seinem alleinigen Besitze. Die Aufführung der „Sappho" fand<lb/> an einem Freitage Statt; den Sonnabend darauf führte mich ein<lb/> Freund in die Abendgesellschaft der Concorvia, die aus Dichtern,<lb/> Schauspielern, Mahlern und Musikern besteht, welche sich mit Aus¬<lb/> stellung, Aufführung und Vorlesung ihrer neuesten Schöpfungen<lb/> unterhalten. Das zweite Gedicht das vom Schauspieler Marr<lb/> vorgelesen wurde, war: „Euripides an die Berliner," eine Epistel<lb/> in Versen von Grillparzer. Es geißelte die Classtcitätsmanie, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0318]
Trotzdem aber blieb mir der Name Grillparzer als Jugenderiime-
rung ein sehr lieber Name, und so oft ich ihn in einem literari¬
schen Buche genannt sah, verschlang ich das von ihm Gesagte mit
innigstem Interesse. Aber leider sprach man fast immer nur von
seiner „Ahnfrau," und ich gestehe es zu meiner Schande, vielleicht
auch zur kleinen Beschämung Norddeutschlands, daß ich dieses Trauer¬
spiel für Grillparzers einziges Werk hielt, oder wenigstens sür sein
bedeutendstes, da man wohl hie und da noch manchen Titel eines
Grillparzerschen Dramas nannte, aber nie dabei mit Anerkennung
verweilte. Meine Neise nach Wien und mein zehnmonatlicher Aufent¬
halt in dieser verführerischen Stadt belehrten mich eines anderen
und besseren, und zwar fing meine Belehrung gleich mit dem ersten
Abende, den ich daselbst zubrachte, an. Ich wollte nicht gleich nach
meiner Ankunft Visiten machen und sah Mich nach dem Theaterzet¬
tel um. Man gab im Burgtheater „Sappho" Trauerspiel von
Grillparzer. Mit welcher Freude ich dahin eilte, brauche ich wohl
nicht erst zu schildern: ich sollte ja die weitere Bekanntschaft des
Dichters meiner Jugend machen! Man spielte sehr mittelmäßig.
Doch war ich beim Nachhausegehen aus dem Burgtheater in in¬
nerster Seele erfreut; ich hatte ein poesievolles, würde- und anmuth¬
reiches Drama gesehen, welches griechische Plastik und deutsche
Tiefe und Romantik auf die schönste Weise vereinigte. — Niemals
hätte ich geglaubt, daß der Verfasser der schauerlichen, nächtigen
„Ahnfrau" Vater einer solchen Dichtung werden könne. Das
glaubt man in Norddeutschland auch nicht, wo man immer nur
vom ersten Jugendwerke Grillparzers spricht, und giebt sich nicht
einmal Mühe sich diese Ueberzeugung zu verschaffen. Aber man
ist gestraft dafür, denn man bleibt um einen großen Dichter ärmer,
und läßt die „materiellen" Wiener, auf die man so' stolz herabsieht,
in seinem alleinigen Besitze. Die Aufführung der „Sappho" fand
an einem Freitage Statt; den Sonnabend darauf führte mich ein
Freund in die Abendgesellschaft der Concorvia, die aus Dichtern,
Schauspielern, Mahlern und Musikern besteht, welche sich mit Aus¬
stellung, Aufführung und Vorlesung ihrer neuesten Schöpfungen
unterhalten. Das zweite Gedicht das vom Schauspieler Marr
vorgelesen wurde, war: „Euripides an die Berliner," eine Epistel
in Versen von Grillparzer. Es geißelte die Classtcitätsmanie, die
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