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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Diesterweg hatte nichts von Demuth, sondern nur von Muth wissen
wollen. Nun schob ihm Pischon ziemlich taktlos, die Sache ins Ge¬
wissen; taktlos, weil dies die schlechteste Manier ist. Jemanden zu
Augeständnissen zu zwingen. Pischon fragte nämlich Diesterweg, ob
nicht des Letzteren eigenes bescyeidenes Benehmen bei den Ehrenbezei¬
gungen des vorigen JahreS "Demuth" gewesen sei? Diesterweg scheint
dies bei dem Festmahle stillschweigend bejaht zu haben. Allein wir
Anderen müssen es nothwendig verneinen. Wenn man jede natürli¬
che Scham, jede Bescheidenheit, jedes Gefühl der eigenen Beschränkung,
und dergleichen, Demuth nennen will -- gut! Aber was ist damit
gewonnen ? -- Demuth ist vielmehr die specifisch christliche Tugend,
die Verleugnung der eigenen Kraft, um in Allem Gott allein die
Ehre zu geben. Diese Tugend besitzt aber Der nicht, welcher im Chri¬
stenthums nichts Gutes als den darin steckenden Humanismus er¬
kennt. Die Tugend des Humanismus ist eigene Kraft und eigener
Muth; sein Wahlspruch: Hilf dir selbst und den Anderen!

Ich hatte diesmal noch Vieles zu besprechen, aber dieser Brief
ist ohnehin schon so lang geworden, daß ich es, um nichts übers Knie
zu brechen, lieber auf den nächsten Brief "ersparen will.


II f.
Aus Wien.
I.

Lage der arbeitenden Klassen. -- Wohlthätigkeit. -- Blinbcninstitut. --
Graf Laverchi. -- Summarisches Rechtsverfahren. -- Quarantäne. --
Schlachthaus,

Der ausnehmend milde Winter, der hier herrscht, indem das
Thermometer selten unter Null sinkt, macht die Besorgnisse zu Nichte,
welche man in Bezug aus den Nothstand der arbeitenden Klassen im
Herbste gehegt hatte; die Bauten und Erdarbeiten können ungehin¬
dert ihren Fortgang nehmen, und dieser Umstand verschafft den Pro¬
letariern ihr tägliches Brod, welches freilich bei der leider noch immer
andauernden Theuerung der Lebensmittel ziemlich klein ausfällt. Der
Kaiser hat zur Vertheilung an die Armen neuerdings I5M0 Gul¬
den angewiesen; überhaupt muß man staunen, welche bedeutende Sum¬
men binnen einem Jahre in die Kassen des Armeninstituts und ande¬
rer wohlthätiger Anstalten fließen. In Bezug auf Mildthätigkeit
dürfte kaum eine zweite Stadt Deutschlands, mit Ausnahme Ham¬
burgs, mit der österreichischen Hauptstadt zu vergleichen sein, indem
außer den beträchtlichen Sammelgeldern von Seiten der Künstler, wel¬
chen bei ihrer Ankunft im Falle mehrerer Concerte, ein Wohlthätig¬
keitsconcert zur Pflicht gemacht wird, viel Geld in das Opferbecken
der Dürftigkeit gespendet wird. So hat z. B. die letzte Akademie
Saphirs im Theater an der Wien der Bersorgungsanstalt für Bim-


Diesterweg hatte nichts von Demuth, sondern nur von Muth wissen
wollen. Nun schob ihm Pischon ziemlich taktlos, die Sache ins Ge¬
wissen; taktlos, weil dies die schlechteste Manier ist. Jemanden zu
Augeständnissen zu zwingen. Pischon fragte nämlich Diesterweg, ob
nicht des Letzteren eigenes bescyeidenes Benehmen bei den Ehrenbezei¬
gungen des vorigen JahreS „Demuth" gewesen sei? Diesterweg scheint
dies bei dem Festmahle stillschweigend bejaht zu haben. Allein wir
Anderen müssen es nothwendig verneinen. Wenn man jede natürli¬
che Scham, jede Bescheidenheit, jedes Gefühl der eigenen Beschränkung,
und dergleichen, Demuth nennen will — gut! Aber was ist damit
gewonnen ? — Demuth ist vielmehr die specifisch christliche Tugend,
die Verleugnung der eigenen Kraft, um in Allem Gott allein die
Ehre zu geben. Diese Tugend besitzt aber Der nicht, welcher im Chri¬
stenthums nichts Gutes als den darin steckenden Humanismus er¬
kennt. Die Tugend des Humanismus ist eigene Kraft und eigener
Muth; sein Wahlspruch: Hilf dir selbst und den Anderen!

Ich hatte diesmal noch Vieles zu besprechen, aber dieser Brief
ist ohnehin schon so lang geworden, daß ich es, um nichts übers Knie
zu brechen, lieber auf den nächsten Brief «ersparen will.


II f.
Aus Wien.
I.

Lage der arbeitenden Klassen. — Wohlthätigkeit. — Blinbcninstitut. —
Graf Laverchi. — Summarisches Rechtsverfahren. — Quarantäne. —
Schlachthaus,

Der ausnehmend milde Winter, der hier herrscht, indem das
Thermometer selten unter Null sinkt, macht die Besorgnisse zu Nichte,
welche man in Bezug aus den Nothstand der arbeitenden Klassen im
Herbste gehegt hatte; die Bauten und Erdarbeiten können ungehin¬
dert ihren Fortgang nehmen, und dieser Umstand verschafft den Pro¬
letariern ihr tägliches Brod, welches freilich bei der leider noch immer
andauernden Theuerung der Lebensmittel ziemlich klein ausfällt. Der
Kaiser hat zur Vertheilung an die Armen neuerdings I5M0 Gul¬
den angewiesen; überhaupt muß man staunen, welche bedeutende Sum¬
men binnen einem Jahre in die Kassen des Armeninstituts und ande¬
rer wohlthätiger Anstalten fließen. In Bezug auf Mildthätigkeit
dürfte kaum eine zweite Stadt Deutschlands, mit Ausnahme Ham¬
burgs, mit der österreichischen Hauptstadt zu vergleichen sein, indem
außer den beträchtlichen Sammelgeldern von Seiten der Künstler, wel¬
chen bei ihrer Ankunft im Falle mehrerer Concerte, ein Wohlthätig¬
keitsconcert zur Pflicht gemacht wird, viel Geld in das Opferbecken
der Dürftigkeit gespendet wird. So hat z. B. die letzte Akademie
Saphirs im Theater an der Wien der Bersorgungsanstalt für Bim-


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[0192] Diesterweg hatte nichts von Demuth, sondern nur von Muth wissen wollen. Nun schob ihm Pischon ziemlich taktlos, die Sache ins Ge¬ wissen; taktlos, weil dies die schlechteste Manier ist. Jemanden zu Augeständnissen zu zwingen. Pischon fragte nämlich Diesterweg, ob nicht des Letzteren eigenes bescyeidenes Benehmen bei den Ehrenbezei¬ gungen des vorigen JahreS „Demuth" gewesen sei? Diesterweg scheint dies bei dem Festmahle stillschweigend bejaht zu haben. Allein wir Anderen müssen es nothwendig verneinen. Wenn man jede natürli¬ che Scham, jede Bescheidenheit, jedes Gefühl der eigenen Beschränkung, und dergleichen, Demuth nennen will — gut! Aber was ist damit gewonnen ? — Demuth ist vielmehr die specifisch christliche Tugend, die Verleugnung der eigenen Kraft, um in Allem Gott allein die Ehre zu geben. Diese Tugend besitzt aber Der nicht, welcher im Chri¬ stenthums nichts Gutes als den darin steckenden Humanismus er¬ kennt. Die Tugend des Humanismus ist eigene Kraft und eigener Muth; sein Wahlspruch: Hilf dir selbst und den Anderen! Ich hatte diesmal noch Vieles zu besprechen, aber dieser Brief ist ohnehin schon so lang geworden, daß ich es, um nichts übers Knie zu brechen, lieber auf den nächsten Brief «ersparen will. II f. Aus Wien. I. Lage der arbeitenden Klassen. — Wohlthätigkeit. — Blinbcninstitut. — Graf Laverchi. — Summarisches Rechtsverfahren. — Quarantäne. — Schlachthaus, Der ausnehmend milde Winter, der hier herrscht, indem das Thermometer selten unter Null sinkt, macht die Besorgnisse zu Nichte, welche man in Bezug aus den Nothstand der arbeitenden Klassen im Herbste gehegt hatte; die Bauten und Erdarbeiten können ungehin¬ dert ihren Fortgang nehmen, und dieser Umstand verschafft den Pro¬ letariern ihr tägliches Brod, welches freilich bei der leider noch immer andauernden Theuerung der Lebensmittel ziemlich klein ausfällt. Der Kaiser hat zur Vertheilung an die Armen neuerdings I5M0 Gul¬ den angewiesen; überhaupt muß man staunen, welche bedeutende Sum¬ men binnen einem Jahre in die Kassen des Armeninstituts und ande¬ rer wohlthätiger Anstalten fließen. In Bezug auf Mildthätigkeit dürfte kaum eine zweite Stadt Deutschlands, mit Ausnahme Ham¬ burgs, mit der österreichischen Hauptstadt zu vergleichen sein, indem außer den beträchtlichen Sammelgeldern von Seiten der Künstler, wel¬ chen bei ihrer Ankunft im Falle mehrerer Concerte, ein Wohlthätig¬ keitsconcert zur Pflicht gemacht wird, viel Geld in das Opferbecken der Dürftigkeit gespendet wird. So hat z. B. die letzte Akademie Saphirs im Theater an der Wien der Bersorgungsanstalt für Bim-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/192>, abgerufen am 22.12.2024.