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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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"Nicht kann ich gleich dir mich verschließen im Hause,
Behaglich und sicher in enger Klause,
Mich zieht es empor, mich trägt es weit.
Vor mir liegt des Himmels Unendlichkeit!
Ich schmücke mein Haupt mit Silber von Sternen,
Mit Rosen der Abenddämmerung,
Nicht rast' ich, bis mich zu lichtesten Fernen
Durch Dunkel und Nebel gehoben mein Schwung.
Nie wollt' ich, in beschränkten Genügen,
Daß Deine niedern Stäbe mich trügen,
Von Andern als letztes Ziel gesteckt!
Auf Höh'n will ich stehn von mir selbst entdeckt,
Und sollt' ich von oben auch nur mit Grauen
Auf Welt und Geschöpfe niederschauen,
Tief unten Millionen, zum Bunde verschworen,
Ich oben im Weltall vereinsamt, verloren!
Nie wird mir Milde die Nahrung geben
Die Deine" Lebens -- einziges Leben,
Doch opferte ich dem herrlichsten Lohn
Von meinem Gesang nicht einen Ton,
Von meiner Freiheit nicht eine Stunde,
Und selbst der Schmerz nicht und nicht die Wunde,
Die gern der niederste Vogel mir schlägt,
Wenn mich mein Flug ihm vorüberträgt.
Nicht acht' ich des Weh'S, -- das Gemeine eben
Geht unverfolgt und schmerzlos durch's Leben!" --
Er schwang sich zum Aether, indem er's sprach.
. Doch höhnend rief der Gimpel ihm nach:
"O Thor! Aus deiner gepriesenen Luft
Ein Pfeil zur Erde herab Dich ruft! --
Schon schwirrt's -- und es liegt den Verfolgern zum Raub
Der Aufwärtsdringcnde blutend im Staub! --
Doch unbekümmert, unangegriffen,
Hat weiter der Gimpel sein Lied gepfiffen,
Hüpft fröhlich im vergitterten Hause
Behaglich und sicher in enger Klause.
Und die Moral? -- Sie läßt sich deuten
Verschieden von verschiedenen Leuten
Ob's Gimpel, oder Paradiesvögel lesen,
Von jedem anders, nach seinem Wesen!

H. L.


Wrenztole", s.16
„Nicht kann ich gleich dir mich verschließen im Hause,
Behaglich und sicher in enger Klause,
Mich zieht es empor, mich trägt es weit.
Vor mir liegt des Himmels Unendlichkeit!
Ich schmücke mein Haupt mit Silber von Sternen,
Mit Rosen der Abenddämmerung,
Nicht rast' ich, bis mich zu lichtesten Fernen
Durch Dunkel und Nebel gehoben mein Schwung.
Nie wollt' ich, in beschränkten Genügen,
Daß Deine niedern Stäbe mich trügen,
Von Andern als letztes Ziel gesteckt!
Auf Höh'n will ich stehn von mir selbst entdeckt,
Und sollt' ich von oben auch nur mit Grauen
Auf Welt und Geschöpfe niederschauen,
Tief unten Millionen, zum Bunde verschworen,
Ich oben im Weltall vereinsamt, verloren!
Nie wird mir Milde die Nahrung geben
Die Deine« Lebens — einziges Leben,
Doch opferte ich dem herrlichsten Lohn
Von meinem Gesang nicht einen Ton,
Von meiner Freiheit nicht eine Stunde,
Und selbst der Schmerz nicht und nicht die Wunde,
Die gern der niederste Vogel mir schlägt,
Wenn mich mein Flug ihm vorüberträgt.
Nicht acht' ich des Weh'S, — das Gemeine eben
Geht unverfolgt und schmerzlos durch's Leben!" —
Er schwang sich zum Aether, indem er's sprach.
. Doch höhnend rief der Gimpel ihm nach:
„O Thor! Aus deiner gepriesenen Luft
Ein Pfeil zur Erde herab Dich ruft! —
Schon schwirrt's — und es liegt den Verfolgern zum Raub
Der Aufwärtsdringcnde blutend im Staub! —
Doch unbekümmert, unangegriffen,
Hat weiter der Gimpel sein Lied gepfiffen,
Hüpft fröhlich im vergitterten Hause
Behaglich und sicher in enger Klause.
Und die Moral? — Sie läßt sich deuten
Verschieden von verschiedenen Leuten
Ob's Gimpel, oder Paradiesvögel lesen,
Von jedem anders, nach seinem Wesen!

H. L.


Wrenztole», s.16
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[0129] „Nicht kann ich gleich dir mich verschließen im Hause, Behaglich und sicher in enger Klause, Mich zieht es empor, mich trägt es weit. Vor mir liegt des Himmels Unendlichkeit! Ich schmücke mein Haupt mit Silber von Sternen, Mit Rosen der Abenddämmerung, Nicht rast' ich, bis mich zu lichtesten Fernen Durch Dunkel und Nebel gehoben mein Schwung. Nie wollt' ich, in beschränkten Genügen, Daß Deine niedern Stäbe mich trügen, Von Andern als letztes Ziel gesteckt! Auf Höh'n will ich stehn von mir selbst entdeckt, Und sollt' ich von oben auch nur mit Grauen Auf Welt und Geschöpfe niederschauen, Tief unten Millionen, zum Bunde verschworen, Ich oben im Weltall vereinsamt, verloren! Nie wird mir Milde die Nahrung geben Die Deine« Lebens — einziges Leben, Doch opferte ich dem herrlichsten Lohn Von meinem Gesang nicht einen Ton, Von meiner Freiheit nicht eine Stunde, Und selbst der Schmerz nicht und nicht die Wunde, Die gern der niederste Vogel mir schlägt, Wenn mich mein Flug ihm vorüberträgt. Nicht acht' ich des Weh'S, — das Gemeine eben Geht unverfolgt und schmerzlos durch's Leben!" — Er schwang sich zum Aether, indem er's sprach. . Doch höhnend rief der Gimpel ihm nach: „O Thor! Aus deiner gepriesenen Luft Ein Pfeil zur Erde herab Dich ruft! — Schon schwirrt's — und es liegt den Verfolgern zum Raub Der Aufwärtsdringcnde blutend im Staub! — Doch unbekümmert, unangegriffen, Hat weiter der Gimpel sein Lied gepfiffen, Hüpft fröhlich im vergitterten Hause Behaglich und sicher in enger Klause. Und die Moral? — Sie läßt sich deuten Verschieden von verschiedenen Leuten Ob's Gimpel, oder Paradiesvögel lesen, Von jedem anders, nach seinem Wesen! H. L. Wrenztole», s.16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/129>, abgerufen am 01.09.2024.