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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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zusammengeschmolzen erfinden könnten. Gott schuf ihn vielleicht
am letzten Wochentage, da er eben den Kopf voll Zahlen seine
Wochenrechnung machte, so wie er Archimedes und Keppler in
dem großen Moment dachte, da er Sonnensysteme berechnete. Jan-
dera's Kopf, seine Phantasie, seine Mienen, nichts als Zahlen. --
Zahlen waren seine Jugend, Zahlen sind sein Alter. Obwohl
Prämonstratensermönch, ist der greise Professor Jandera ein wahrer
Ketzer, denn gegen alles Evangelium behauptet er alljährlich vor
seinen Zuhörern offen und heldenmüthig wie Galilei, "daß man
ohne Mathematik nicht selig werden könne!" -- Aber weit ent¬
fernt, daß ihn diese Begeisterung zu Ertravaganzen führe, daß
er sich durch sie auf Newtonsche oder Eulerische Ideen werfen
ließe; im Gegentheile verharrt er nun schon seit 50 Jahren in ei¬
nem gewissen kleinen Kreise von Zahlen und Problemen. Alljähr¬
lich, seit einem halben Jahrhunderte, beginnt er seinen Cursus mit
denselben Worten und schließt ihn mit denselben begeisterten Aus¬
rufungen. Wer das Glück hat, ihn zweimal zu hören, weiß ge¬
nau, welche Bewegungen, welche Grimassen, welche Zahlen, welche
Probleme, Beispiele und Witze an jedem Tage zur bestimmten
Stunde vorkommen. Trotz seines Alters hat er noch stets die
Stimme eines Löwen und die Beweglichkeit einer Gazelle. -- Es
schwindelt Einem, wie er da oben in seinem grauen Röckchen an
der Tafel hin und her springt, bald an der äußersten Spitze des
hohen Kathederbrettcs wie die Gems am Rande des Abgrundes
schwebt, bald mit himmelstürmenden Armen ein papiernes Dreieck
in die Höhe hebt, bald nach einem gefundenen Producte zweier
Katheten triumphirend wie Napoleon nach der Schlacht bei Wa¬
gram mit verschränkten Armen auf sein Auditorium niederblickt.
Es ist derselbe Triumph, den er immer und schon mehr als 45mal
feiert. Auch in seinen kurzgefaßten, stets drastischen Reden ist Prof.
Jandera ein wahrer Napoleon. Wenn er z. B. beim Eramen mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit zugleich Factor und Produkt an¬
gebend, einem Kapuziner halbleise ins Ohr sagt: Geistlicher Herr,
Sie sind ein Esel. -- Wahrhaft schauerlich groß ist Prof. Jan¬
dera, wenn er beim Examen zu seinem Schlachtopfer mit stoischer
Kälte, mit einer Brutuömiene, und mit dem Bleistifte tändelnd, wie
Richard M. mit den Erdbeeren, gelassen und mit leisem Achselzucken


zusammengeschmolzen erfinden könnten. Gott schuf ihn vielleicht
am letzten Wochentage, da er eben den Kopf voll Zahlen seine
Wochenrechnung machte, so wie er Archimedes und Keppler in
dem großen Moment dachte, da er Sonnensysteme berechnete. Jan-
dera's Kopf, seine Phantasie, seine Mienen, nichts als Zahlen. —
Zahlen waren seine Jugend, Zahlen sind sein Alter. Obwohl
Prämonstratensermönch, ist der greise Professor Jandera ein wahrer
Ketzer, denn gegen alles Evangelium behauptet er alljährlich vor
seinen Zuhörern offen und heldenmüthig wie Galilei, „daß man
ohne Mathematik nicht selig werden könne!" — Aber weit ent¬
fernt, daß ihn diese Begeisterung zu Ertravaganzen führe, daß
er sich durch sie auf Newtonsche oder Eulerische Ideen werfen
ließe; im Gegentheile verharrt er nun schon seit 50 Jahren in ei¬
nem gewissen kleinen Kreise von Zahlen und Problemen. Alljähr¬
lich, seit einem halben Jahrhunderte, beginnt er seinen Cursus mit
denselben Worten und schließt ihn mit denselben begeisterten Aus¬
rufungen. Wer das Glück hat, ihn zweimal zu hören, weiß ge¬
nau, welche Bewegungen, welche Grimassen, welche Zahlen, welche
Probleme, Beispiele und Witze an jedem Tage zur bestimmten
Stunde vorkommen. Trotz seines Alters hat er noch stets die
Stimme eines Löwen und die Beweglichkeit einer Gazelle. — Es
schwindelt Einem, wie er da oben in seinem grauen Röckchen an
der Tafel hin und her springt, bald an der äußersten Spitze des
hohen Kathederbrettcs wie die Gems am Rande des Abgrundes
schwebt, bald mit himmelstürmenden Armen ein papiernes Dreieck
in die Höhe hebt, bald nach einem gefundenen Producte zweier
Katheten triumphirend wie Napoleon nach der Schlacht bei Wa¬
gram mit verschränkten Armen auf sein Auditorium niederblickt.
Es ist derselbe Triumph, den er immer und schon mehr als 45mal
feiert. Auch in seinen kurzgefaßten, stets drastischen Reden ist Prof.
Jandera ein wahrer Napoleon. Wenn er z. B. beim Eramen mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit zugleich Factor und Produkt an¬
gebend, einem Kapuziner halbleise ins Ohr sagt: Geistlicher Herr,
Sie sind ein Esel. — Wahrhaft schauerlich groß ist Prof. Jan¬
dera, wenn er beim Examen zu seinem Schlachtopfer mit stoischer
Kälte, mit einer Brutuömiene, und mit dem Bleistifte tändelnd, wie
Richard M. mit den Erdbeeren, gelassen und mit leisem Achselzucken


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[0120] zusammengeschmolzen erfinden könnten. Gott schuf ihn vielleicht am letzten Wochentage, da er eben den Kopf voll Zahlen seine Wochenrechnung machte, so wie er Archimedes und Keppler in dem großen Moment dachte, da er Sonnensysteme berechnete. Jan- dera's Kopf, seine Phantasie, seine Mienen, nichts als Zahlen. — Zahlen waren seine Jugend, Zahlen sind sein Alter. Obwohl Prämonstratensermönch, ist der greise Professor Jandera ein wahrer Ketzer, denn gegen alles Evangelium behauptet er alljährlich vor seinen Zuhörern offen und heldenmüthig wie Galilei, „daß man ohne Mathematik nicht selig werden könne!" — Aber weit ent¬ fernt, daß ihn diese Begeisterung zu Ertravaganzen führe, daß er sich durch sie auf Newtonsche oder Eulerische Ideen werfen ließe; im Gegentheile verharrt er nun schon seit 50 Jahren in ei¬ nem gewissen kleinen Kreise von Zahlen und Problemen. Alljähr¬ lich, seit einem halben Jahrhunderte, beginnt er seinen Cursus mit denselben Worten und schließt ihn mit denselben begeisterten Aus¬ rufungen. Wer das Glück hat, ihn zweimal zu hören, weiß ge¬ nau, welche Bewegungen, welche Grimassen, welche Zahlen, welche Probleme, Beispiele und Witze an jedem Tage zur bestimmten Stunde vorkommen. Trotz seines Alters hat er noch stets die Stimme eines Löwen und die Beweglichkeit einer Gazelle. — Es schwindelt Einem, wie er da oben in seinem grauen Röckchen an der Tafel hin und her springt, bald an der äußersten Spitze des hohen Kathederbrettcs wie die Gems am Rande des Abgrundes schwebt, bald mit himmelstürmenden Armen ein papiernes Dreieck in die Höhe hebt, bald nach einem gefundenen Producte zweier Katheten triumphirend wie Napoleon nach der Schlacht bei Wa¬ gram mit verschränkten Armen auf sein Auditorium niederblickt. Es ist derselbe Triumph, den er immer und schon mehr als 45mal feiert. Auch in seinen kurzgefaßten, stets drastischen Reden ist Prof. Jandera ein wahrer Napoleon. Wenn er z. B. beim Eramen mit mathematischer Gewissenhaftigkeit zugleich Factor und Produkt an¬ gebend, einem Kapuziner halbleise ins Ohr sagt: Geistlicher Herr, Sie sind ein Esel. — Wahrhaft schauerlich groß ist Prof. Jan¬ dera, wenn er beim Examen zu seinem Schlachtopfer mit stoischer Kälte, mit einer Brutuömiene, und mit dem Bleistifte tändelnd, wie Richard M. mit den Erdbeeren, gelassen und mit leisem Achselzucken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/120>, abgerufen am 02.09.2024.