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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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in das Privatleben des Herrschers; seine Familienverhältnisse sind
eine Staatsangelegenheit; das Volk fühlt, daß des Landes Wohl
und Wehe von den Einflüssen abhängt, unter welchen der Monarch
steht. Die Gräfin, hieß es, übe die verderblichste Einwirkung auf
die Regierungshandlungen und heute dieselben für sich und ihre
Creaturen aus. Alle drückenden und willkürlichen Maßregeln der
Regierung wurden vorzüglich auf ihre Rechnung geschrieben. Ein
Drohbrief, der, an den Churfürsten gerichtet, am 20. Juni 1823 zu
Cassel auf die Post gegeben wurde, machte das Uebel nur ärger.
Der Churfürst wurde in diesem Briefe aufgefordert, die Gräfin Rei-
chenbach zu entfernen, dem Lande binnen Jahresfrist eine dem Art.
13 der Bundesacte entsprechende Verfassung zu geben und (hier ver¬
räth sich die Sphäre, aus welcher dieser kalte Schlag herkommen
mochte) sein Benehmen gegen seine nächste Umgebung zu ändern;
widrigenfalls eine Anzahl junger Leute, die zu diesem Ende verschwo¬
ren wären, ihm und der Gräfin nach dem Leben trachten würden.
Die einer Speculcommission übertragene Untersuchung über dieses
Attentat verbreitete, sagt Jordan, gleich einem drohenden Gewitter,
Furcht und Schrecken über den ganzen Staat; die polizeilichen Ma߬
regeln wurden in einer bis dahin unbekannten Weise vermehrt und
geschärft, der Absolutismus griff polypenartig immer mehr um sich
und lastete schwer auf dem Volke, das zwar mit stummer Duldsam¬
keit das Unabwendbare äußerlich zu ertragen schien, desto mehr aber
sich im Stillen nach einer Verbesserung seiner Lage sehnte.

So war der Zustand Churhessens, als im Jahre 1830 die fran¬
zösische Julirevolution einen Funken in diesen aufgehäuften Zunder
warf. Der Churfürst war mit der Gräfin Reichenbach nach Carls¬
bad gereist; er war krank, unzugänglich, der ihm nachgesendete Leib¬
arzt wurde nicht vorgelassen; schreckliche Gerüchte liefen im Volk
um. Da lud in Cassel ein Mann, der durch die Zerstörung der
Habichschen Fabrik seinen wichtigsten Nahrungszweig eingebüßt hatte,
Herbold, Gildemeister der Küferzunft, am 2. September die Zünfte
zu einer Versammlung ein, ursprünglich nur in der Absicht, daß man
sich über die Beschwerden der Gewerke und über Mittel, diesen ab¬
zuhelfen, berathe; bald aber nahm die Berathung eine allgemeinere
Richtung. Auf den Vorschlag des Obergcrichtsanwalts Hahn, der
als Advocat zugezogen worden, faßte die Versammlung den Be-


in das Privatleben des Herrschers; seine Familienverhältnisse sind
eine Staatsangelegenheit; das Volk fühlt, daß des Landes Wohl
und Wehe von den Einflüssen abhängt, unter welchen der Monarch
steht. Die Gräfin, hieß es, übe die verderblichste Einwirkung auf
die Regierungshandlungen und heute dieselben für sich und ihre
Creaturen aus. Alle drückenden und willkürlichen Maßregeln der
Regierung wurden vorzüglich auf ihre Rechnung geschrieben. Ein
Drohbrief, der, an den Churfürsten gerichtet, am 20. Juni 1823 zu
Cassel auf die Post gegeben wurde, machte das Uebel nur ärger.
Der Churfürst wurde in diesem Briefe aufgefordert, die Gräfin Rei-
chenbach zu entfernen, dem Lande binnen Jahresfrist eine dem Art.
13 der Bundesacte entsprechende Verfassung zu geben und (hier ver¬
räth sich die Sphäre, aus welcher dieser kalte Schlag herkommen
mochte) sein Benehmen gegen seine nächste Umgebung zu ändern;
widrigenfalls eine Anzahl junger Leute, die zu diesem Ende verschwo¬
ren wären, ihm und der Gräfin nach dem Leben trachten würden.
Die einer Speculcommission übertragene Untersuchung über dieses
Attentat verbreitete, sagt Jordan, gleich einem drohenden Gewitter,
Furcht und Schrecken über den ganzen Staat; die polizeilichen Ma߬
regeln wurden in einer bis dahin unbekannten Weise vermehrt und
geschärft, der Absolutismus griff polypenartig immer mehr um sich
und lastete schwer auf dem Volke, das zwar mit stummer Duldsam¬
keit das Unabwendbare äußerlich zu ertragen schien, desto mehr aber
sich im Stillen nach einer Verbesserung seiner Lage sehnte.

So war der Zustand Churhessens, als im Jahre 1830 die fran¬
zösische Julirevolution einen Funken in diesen aufgehäuften Zunder
warf. Der Churfürst war mit der Gräfin Reichenbach nach Carls¬
bad gereist; er war krank, unzugänglich, der ihm nachgesendete Leib¬
arzt wurde nicht vorgelassen; schreckliche Gerüchte liefen im Volk
um. Da lud in Cassel ein Mann, der durch die Zerstörung der
Habichschen Fabrik seinen wichtigsten Nahrungszweig eingebüßt hatte,
Herbold, Gildemeister der Küferzunft, am 2. September die Zünfte
zu einer Versammlung ein, ursprünglich nur in der Absicht, daß man
sich über die Beschwerden der Gewerke und über Mittel, diesen ab¬
zuhelfen, berathe; bald aber nahm die Berathung eine allgemeinere
Richtung. Auf den Vorschlag des Obergcrichtsanwalts Hahn, der
als Advocat zugezogen worden, faßte die Versammlung den Be-


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[0397] in das Privatleben des Herrschers; seine Familienverhältnisse sind eine Staatsangelegenheit; das Volk fühlt, daß des Landes Wohl und Wehe von den Einflüssen abhängt, unter welchen der Monarch steht. Die Gräfin, hieß es, übe die verderblichste Einwirkung auf die Regierungshandlungen und heute dieselben für sich und ihre Creaturen aus. Alle drückenden und willkürlichen Maßregeln der Regierung wurden vorzüglich auf ihre Rechnung geschrieben. Ein Drohbrief, der, an den Churfürsten gerichtet, am 20. Juni 1823 zu Cassel auf die Post gegeben wurde, machte das Uebel nur ärger. Der Churfürst wurde in diesem Briefe aufgefordert, die Gräfin Rei- chenbach zu entfernen, dem Lande binnen Jahresfrist eine dem Art. 13 der Bundesacte entsprechende Verfassung zu geben und (hier ver¬ räth sich die Sphäre, aus welcher dieser kalte Schlag herkommen mochte) sein Benehmen gegen seine nächste Umgebung zu ändern; widrigenfalls eine Anzahl junger Leute, die zu diesem Ende verschwo¬ ren wären, ihm und der Gräfin nach dem Leben trachten würden. Die einer Speculcommission übertragene Untersuchung über dieses Attentat verbreitete, sagt Jordan, gleich einem drohenden Gewitter, Furcht und Schrecken über den ganzen Staat; die polizeilichen Ma߬ regeln wurden in einer bis dahin unbekannten Weise vermehrt und geschärft, der Absolutismus griff polypenartig immer mehr um sich und lastete schwer auf dem Volke, das zwar mit stummer Duldsam¬ keit das Unabwendbare äußerlich zu ertragen schien, desto mehr aber sich im Stillen nach einer Verbesserung seiner Lage sehnte. So war der Zustand Churhessens, als im Jahre 1830 die fran¬ zösische Julirevolution einen Funken in diesen aufgehäuften Zunder warf. Der Churfürst war mit der Gräfin Reichenbach nach Carls¬ bad gereist; er war krank, unzugänglich, der ihm nachgesendete Leib¬ arzt wurde nicht vorgelassen; schreckliche Gerüchte liefen im Volk um. Da lud in Cassel ein Mann, der durch die Zerstörung der Habichschen Fabrik seinen wichtigsten Nahrungszweig eingebüßt hatte, Herbold, Gildemeister der Küferzunft, am 2. September die Zünfte zu einer Versammlung ein, ursprünglich nur in der Absicht, daß man sich über die Beschwerden der Gewerke und über Mittel, diesen ab¬ zuhelfen, berathe; bald aber nahm die Berathung eine allgemeinere Richtung. Auf den Vorschlag des Obergcrichtsanwalts Hahn, der als Advocat zugezogen worden, faßte die Versammlung den Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/397>, abgerufen am 05.02.2025.