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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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ander" Schmerzen verlor, bis auf den um die fehlende deutsche
Flotte. Leider ist mir ein solches Wunder nicht begegnet, und doch
wäre es nicht mehr als billig gewesen, da ich bisher die See nur
aus Gedichten und Romanen kannte. Aber ich bin auch prosaisch
genug, dir zu gestehen, daß ich zwei volle Stunden in Ostende her¬
umlief, ohne das Meer zu begrüßen; öfters war ich, am oben Ende
der i-"<z t^ii^vllo, kaum hundert Schritte davon entfernt und hörte
sein Brausen hinter dem Damme, der es meinen Blicken verbarg;
ich hatte so viel Besonnenheit, mich auf den Genuß, den ich mir
versprach, methodisch vorzubereiten, und wollte erst meine Freunde
aufsuchen. Welch ein Feierabend, wenn ich sie finde!

Ostende ist in der Saison eine deutsche Stadt und die Sprache
Teut's ist mächtig daselbst. Aber dies erhöhete nur mein Herzpochen.
Wie leicht konnte ich an den Ersehnten vorübergehen, ohne daß sie
oder ich eine Ahnung davon hatten. Während ich daher ungedul¬
dig sus einem Hotel ins andere eilte und mir überall wie ein Po-
lizeicommissär die Fremdenbücher vorlegen ließ, konnte ich mich auch
auf der Gasse nicht enthalten, jedem spazierenden Paar nachzugehen
und wo ich eine kleine hübsche Dame sah, ihr neugierig unter den
Hut zu gucken, als müßte ich sie, nach veiner Beschreibung, erken¬
nen. Vergebens. Zuletzt entdeckte ich ihre Spur mit Hilfe eines
deutschen Kellners, den ich aber lange nicht verstand, weil er sein
bischen flandrisches Französisch durchaus an mir üben wollte. Er
führte mich bereitwillig eine schöne Treppe hinauf, öffnete die Thüre
eines kleinen Salons lind indem er, um mich anzumelden, auf die
Schwelle trat, sagte er, hineinzcigend: "Ganz recht, hier steht noch
eine Hutschachtel, die sie vergessen haben." -- Sie hatten einen Tag
gewartet und waren dann kurz vor meiner Ankunft abgereist, nach
England. Wenn ich rasch auf den Damm liefe, so könnte ich viel¬
leicht noch den Rauch des Dampfbootes erspähen, welches sie da¬
vontrug, -- meinte er. --

Ich habe mir sagen lassen, das Meer sei wie ein großer Mann,
dessen Größe man erst bei näherer Bekanntschaft ahnen lerne. Des¬
halb erwartete ich nichts Ungeheueres vom allerersten Eindruck. Aber
wie ich die kleine Höhe des Dammes hinaufgestiegen war, entfuhr
mir doch ein leises Ah! und ich stand, aufathmend und erschrocken,
wie vor einer nackten Götterfchönheit. Dies also ist das Meer


ander» Schmerzen verlor, bis auf den um die fehlende deutsche
Flotte. Leider ist mir ein solches Wunder nicht begegnet, und doch
wäre es nicht mehr als billig gewesen, da ich bisher die See nur
aus Gedichten und Romanen kannte. Aber ich bin auch prosaisch
genug, dir zu gestehen, daß ich zwei volle Stunden in Ostende her¬
umlief, ohne das Meer zu begrüßen; öfters war ich, am oben Ende
der i-»<z t^ii^vllo, kaum hundert Schritte davon entfernt und hörte
sein Brausen hinter dem Damme, der es meinen Blicken verbarg;
ich hatte so viel Besonnenheit, mich auf den Genuß, den ich mir
versprach, methodisch vorzubereiten, und wollte erst meine Freunde
aufsuchen. Welch ein Feierabend, wenn ich sie finde!

Ostende ist in der Saison eine deutsche Stadt und die Sprache
Teut's ist mächtig daselbst. Aber dies erhöhete nur mein Herzpochen.
Wie leicht konnte ich an den Ersehnten vorübergehen, ohne daß sie
oder ich eine Ahnung davon hatten. Während ich daher ungedul¬
dig sus einem Hotel ins andere eilte und mir überall wie ein Po-
lizeicommissär die Fremdenbücher vorlegen ließ, konnte ich mich auch
auf der Gasse nicht enthalten, jedem spazierenden Paar nachzugehen
und wo ich eine kleine hübsche Dame sah, ihr neugierig unter den
Hut zu gucken, als müßte ich sie, nach veiner Beschreibung, erken¬
nen. Vergebens. Zuletzt entdeckte ich ihre Spur mit Hilfe eines
deutschen Kellners, den ich aber lange nicht verstand, weil er sein
bischen flandrisches Französisch durchaus an mir üben wollte. Er
führte mich bereitwillig eine schöne Treppe hinauf, öffnete die Thüre
eines kleinen Salons lind indem er, um mich anzumelden, auf die
Schwelle trat, sagte er, hineinzcigend: „Ganz recht, hier steht noch
eine Hutschachtel, die sie vergessen haben." — Sie hatten einen Tag
gewartet und waren dann kurz vor meiner Ankunft abgereist, nach
England. Wenn ich rasch auf den Damm liefe, so könnte ich viel¬
leicht noch den Rauch des Dampfbootes erspähen, welches sie da¬
vontrug, — meinte er. —

Ich habe mir sagen lassen, das Meer sei wie ein großer Mann,
dessen Größe man erst bei näherer Bekanntschaft ahnen lerne. Des¬
halb erwartete ich nichts Ungeheueres vom allerersten Eindruck. Aber
wie ich die kleine Höhe des Dammes hinaufgestiegen war, entfuhr
mir doch ein leises Ah! und ich stand, aufathmend und erschrocken,
wie vor einer nackten Götterfchönheit. Dies also ist das Meer


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[0386] ander» Schmerzen verlor, bis auf den um die fehlende deutsche Flotte. Leider ist mir ein solches Wunder nicht begegnet, und doch wäre es nicht mehr als billig gewesen, da ich bisher die See nur aus Gedichten und Romanen kannte. Aber ich bin auch prosaisch genug, dir zu gestehen, daß ich zwei volle Stunden in Ostende her¬ umlief, ohne das Meer zu begrüßen; öfters war ich, am oben Ende der i-»<z t^ii^vllo, kaum hundert Schritte davon entfernt und hörte sein Brausen hinter dem Damme, der es meinen Blicken verbarg; ich hatte so viel Besonnenheit, mich auf den Genuß, den ich mir versprach, methodisch vorzubereiten, und wollte erst meine Freunde aufsuchen. Welch ein Feierabend, wenn ich sie finde! Ostende ist in der Saison eine deutsche Stadt und die Sprache Teut's ist mächtig daselbst. Aber dies erhöhete nur mein Herzpochen. Wie leicht konnte ich an den Ersehnten vorübergehen, ohne daß sie oder ich eine Ahnung davon hatten. Während ich daher ungedul¬ dig sus einem Hotel ins andere eilte und mir überall wie ein Po- lizeicommissär die Fremdenbücher vorlegen ließ, konnte ich mich auch auf der Gasse nicht enthalten, jedem spazierenden Paar nachzugehen und wo ich eine kleine hübsche Dame sah, ihr neugierig unter den Hut zu gucken, als müßte ich sie, nach veiner Beschreibung, erken¬ nen. Vergebens. Zuletzt entdeckte ich ihre Spur mit Hilfe eines deutschen Kellners, den ich aber lange nicht verstand, weil er sein bischen flandrisches Französisch durchaus an mir üben wollte. Er führte mich bereitwillig eine schöne Treppe hinauf, öffnete die Thüre eines kleinen Salons lind indem er, um mich anzumelden, auf die Schwelle trat, sagte er, hineinzcigend: „Ganz recht, hier steht noch eine Hutschachtel, die sie vergessen haben." — Sie hatten einen Tag gewartet und waren dann kurz vor meiner Ankunft abgereist, nach England. Wenn ich rasch auf den Damm liefe, so könnte ich viel¬ leicht noch den Rauch des Dampfbootes erspähen, welches sie da¬ vontrug, — meinte er. — Ich habe mir sagen lassen, das Meer sei wie ein großer Mann, dessen Größe man erst bei näherer Bekanntschaft ahnen lerne. Des¬ halb erwartete ich nichts Ungeheueres vom allerersten Eindruck. Aber wie ich die kleine Höhe des Dammes hinaufgestiegen war, entfuhr mir doch ein leises Ah! und ich stand, aufathmend und erschrocken, wie vor einer nackten Götterfchönheit. Dies also ist das Meer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/386>, abgerufen am 05.02.2025.