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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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den Moritz von Sachsen, diese Woche den bösen Geist Lumpaciusvaga-
bundus und nächste Woche -- den Professor Gottsched. Ein solcher
Schauspieler muß entweder ein colossales Genie sein, oder einer jener
Menschen, die Vieles treiben, weil sie Nichts mit der vollen Befähi¬
gung treiben. Herr Marrder, früher Varitonist von Verdienst und
schöner Stimme, hat letztere nun zum Theil eingebüßt und steht nun
am Wendepunkte zweier Welttheile. Er singt den deutschen Krieger
und spricht den Figaro. Wären es Nebenrollen, in welchen Herr
Marrder beschäftigt würde, so würden wir ihm aus vollem Herzen
jene Lobsprüche zollen, die seine Unermüdlichkeit und sein bis zu einer
mittleren Höhe reichendes Talent verdient. Aber da er in ersten Rol¬
lenfächern den Lückenbüßer macht, so müssen wir ohne Schonung die
Wahrheit sagen. Für eine kleinere Bühne wäre Herr Marrder eine
unbezahlbare Requisition; aber auf dem Leipziger Theater, von welchem
der Ruf und das Schicksal manches neuen Stückes ausgeht, ist er
ein Unglück; gerade weil er nicht schlecht genug ist, um ausgelacht
zu werden, und auch nicht gut genug, um eine neue Rolle zu schaffen
und zu tragen, wird Vieles dem Dichter zugeschrieben, was Schuld
des Darstellers ist, und Bauernfeld, Prutz und Laube haben manches
büßen müssen, weil der verwendbare Herr Marrder.so gar sehr ver¬
wendbar ist. -- Die beiden Komiker, Herr BaUmann und Herr Berthold,
sind bereits so lange am Leipziger Stadttheater, daß es überflüssig wäre,
sie erst jetzt charakterisiren zu wollen. Ihre Erscheinung setzt das
Publikum jedesmal in die heiterste Stimmung, und sie verdienen, na¬
mentlich Herr Ballmann, ihre Beliebtheit.

Das Fach der Vater ist nicht besetzt, oder wenigstens sehr ungc--
rügend. Herr Keller, der damit bekleidet scheint, ist ein noch ganz
junger Mann, der, um seine natürliche Lebendigkeit zu unterdrücken,
noch einen Gegensatz sucht und in der erkünstelten Ruhe matt, kalt
und wirkungslos ist. Schade für den sonst niet)t unbegabten Schauspieler.

Herr Stürmer, Regisseur der Oper, spielt gleichfalls bisweilen
das Fach der Bater, ist aber hier weniger an seinem Platze, als in
Rollen, die der Repräsentation bedürfen. Der ernste Hofmann, der
Diplomat, und überhaupt Charaktere, die eine gewisse Zurückhaltung
und eine stattliche Erscheinung nöthig haben, finden an Herrn Stür¬
mer einen entsprechenden Darsteller.

Für Nebenfächer hat die Leipziger Bühne einige sehr wackere
Mitglieder. Der junge, fleißige und aufmuntcrungswürdige Herr Gutt-
mann, der schüchterne, aber bisweilen sehr wirksame Herr Paulmann,
die Herren Linke, Bickcrt u. s. w.'

Wir haben uns, wie auf einem Shakespearschen Theaterzettel,
die weiblichen Mitglieder bis zuletzt verspart. Ihre Zahl ist nicht
groß. Das Fach der Heldenmutter, der Lady MilfortS und Orsina's
ist durch den contraclbrüchigen Ausflug der Madame Dessoir durch


den Moritz von Sachsen, diese Woche den bösen Geist Lumpaciusvaga-
bundus und nächste Woche — den Professor Gottsched. Ein solcher
Schauspieler muß entweder ein colossales Genie sein, oder einer jener
Menschen, die Vieles treiben, weil sie Nichts mit der vollen Befähi¬
gung treiben. Herr Marrder, früher Varitonist von Verdienst und
schöner Stimme, hat letztere nun zum Theil eingebüßt und steht nun
am Wendepunkte zweier Welttheile. Er singt den deutschen Krieger
und spricht den Figaro. Wären es Nebenrollen, in welchen Herr
Marrder beschäftigt würde, so würden wir ihm aus vollem Herzen
jene Lobsprüche zollen, die seine Unermüdlichkeit und sein bis zu einer
mittleren Höhe reichendes Talent verdient. Aber da er in ersten Rol¬
lenfächern den Lückenbüßer macht, so müssen wir ohne Schonung die
Wahrheit sagen. Für eine kleinere Bühne wäre Herr Marrder eine
unbezahlbare Requisition; aber auf dem Leipziger Theater, von welchem
der Ruf und das Schicksal manches neuen Stückes ausgeht, ist er
ein Unglück; gerade weil er nicht schlecht genug ist, um ausgelacht
zu werden, und auch nicht gut genug, um eine neue Rolle zu schaffen
und zu tragen, wird Vieles dem Dichter zugeschrieben, was Schuld
des Darstellers ist, und Bauernfeld, Prutz und Laube haben manches
büßen müssen, weil der verwendbare Herr Marrder.so gar sehr ver¬
wendbar ist. — Die beiden Komiker, Herr BaUmann und Herr Berthold,
sind bereits so lange am Leipziger Stadttheater, daß es überflüssig wäre,
sie erst jetzt charakterisiren zu wollen. Ihre Erscheinung setzt das
Publikum jedesmal in die heiterste Stimmung, und sie verdienen, na¬
mentlich Herr Ballmann, ihre Beliebtheit.

Das Fach der Vater ist nicht besetzt, oder wenigstens sehr ungc--
rügend. Herr Keller, der damit bekleidet scheint, ist ein noch ganz
junger Mann, der, um seine natürliche Lebendigkeit zu unterdrücken,
noch einen Gegensatz sucht und in der erkünstelten Ruhe matt, kalt
und wirkungslos ist. Schade für den sonst niet)t unbegabten Schauspieler.

Herr Stürmer, Regisseur der Oper, spielt gleichfalls bisweilen
das Fach der Bater, ist aber hier weniger an seinem Platze, als in
Rollen, die der Repräsentation bedürfen. Der ernste Hofmann, der
Diplomat, und überhaupt Charaktere, die eine gewisse Zurückhaltung
und eine stattliche Erscheinung nöthig haben, finden an Herrn Stür¬
mer einen entsprechenden Darsteller.

Für Nebenfächer hat die Leipziger Bühne einige sehr wackere
Mitglieder. Der junge, fleißige und aufmuntcrungswürdige Herr Gutt-
mann, der schüchterne, aber bisweilen sehr wirksame Herr Paulmann,
die Herren Linke, Bickcrt u. s. w.'

Wir haben uns, wie auf einem Shakespearschen Theaterzettel,
die weiblichen Mitglieder bis zuletzt verspart. Ihre Zahl ist nicht
groß. Das Fach der Heldenmutter, der Lady MilfortS und Orsina's
ist durch den contraclbrüchigen Ausflug der Madame Dessoir durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/100>, abgerufen am 05.02.2025.