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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Ideen nicht widersetzen, -- wer kann alle die Verhältnisse aufzählen,
unter denen eine Partei ihren wahren Charakter zu verstecken sucht.
Mangel an Nachdenken führt Selbsttäuschung herbei, die um so leich¬
ter entsteht, je geneigter man ist, das für wahr zu halten, was man
wünscht. Eine solche Lage führt aber für eine Partei manche Ge¬
fahr herbei. Im umgekehrten Fall sind die Handelnden wenigstens
ihres Zweckes sich bewußt, hier hält man aus Ungeschicklichkeit das
verkehrte Ziel für das wahre. Aber unerbittlich wird die Zeit im
Verlauf der Begebenheiten alle Irrthümer aufvecken, und wehe dem
Schwachen, der vor seinen eignen Consequenzen erschrickt! Es gibt
aber noch eine besondere Art von Selbsttäuschung, und an dieser ist
unsere Zeit besonders reich. Sie besteht darin, daß man zwar ent¬
fernt die Consequenzen mehr oder weniger deutlich sieht oder ahnt,
aber es nicht wagt, sie klar zu denken oder gar auszusprechen.
Meistentheils haben daran die Zeitumstände Schuld, in denen es
gefährlich ist, gewisse Bestrebungen geradezu an's Licht zu bringen.
Diese Parteien haben ihre Stärke und ihre Schwäche. Ihre Stärke
darin, daß sie ihres Zwecks nicht ganz unbewußt sind, also von einem
richtigen Gefühl geleitet, das Verderbliche abzuwenden und ihre Zwecke
zu befördern wissen; ihre Schwäche aber, daß sie, wenn es darauf
ankommt, sich klar auszusprechen und die Consequenzen ihrer Systeme
hinzunehmen, scheu zurückweichen und sich vielleicht durch neue, den
alten ähnliche Waffen zu retten suchen. Nicht uninteressant möchte
eS sein, eine Geschichte der Lügen unserer Zeit zu schreiben.
Eine wahre Musterkarte derselben könnte man zu Tage fördern, deut¬
liche und versteckte Lügen. Man würde erstaunen über die Kühnheit
einiger dieser Lügen, lachen über die Wendungen, die andere wieder
nehmen, um als Wahrheit zu erscheinen. Mit Selbstgefälligkeit tre¬
ten einige hervor, mit Bescheidenheit- andere, listig die einen, täppisch
die andern. Dabei wechseln sie fortwährend die Rollen, heute gilt
diese, morgen jene; keine, die nicht ihre Verehrerzählt, keine, die nicht
trachtet, der andern den Sieg streitig zu machen.

Das aber grade ist das Unglück unserer Zeit, daß wir von so
vielen Lügen umgeben, gleichsam belagert sind, und noch mehr, dies
nicht einmal wissen wollen. Beides ist aber Feigheit, mag man vor
den Resultaten seines eignen Nachdenkens erschrecken, mag man sie
nicht anerkennen wollen. Freilich liegt in diesem Verstecken oft alle


Ideen nicht widersetzen, — wer kann alle die Verhältnisse aufzählen,
unter denen eine Partei ihren wahren Charakter zu verstecken sucht.
Mangel an Nachdenken führt Selbsttäuschung herbei, die um so leich¬
ter entsteht, je geneigter man ist, das für wahr zu halten, was man
wünscht. Eine solche Lage führt aber für eine Partei manche Ge¬
fahr herbei. Im umgekehrten Fall sind die Handelnden wenigstens
ihres Zweckes sich bewußt, hier hält man aus Ungeschicklichkeit das
verkehrte Ziel für das wahre. Aber unerbittlich wird die Zeit im
Verlauf der Begebenheiten alle Irrthümer aufvecken, und wehe dem
Schwachen, der vor seinen eignen Consequenzen erschrickt! Es gibt
aber noch eine besondere Art von Selbsttäuschung, und an dieser ist
unsere Zeit besonders reich. Sie besteht darin, daß man zwar ent¬
fernt die Consequenzen mehr oder weniger deutlich sieht oder ahnt,
aber es nicht wagt, sie klar zu denken oder gar auszusprechen.
Meistentheils haben daran die Zeitumstände Schuld, in denen es
gefährlich ist, gewisse Bestrebungen geradezu an's Licht zu bringen.
Diese Parteien haben ihre Stärke und ihre Schwäche. Ihre Stärke
darin, daß sie ihres Zwecks nicht ganz unbewußt sind, also von einem
richtigen Gefühl geleitet, das Verderbliche abzuwenden und ihre Zwecke
zu befördern wissen; ihre Schwäche aber, daß sie, wenn es darauf
ankommt, sich klar auszusprechen und die Consequenzen ihrer Systeme
hinzunehmen, scheu zurückweichen und sich vielleicht durch neue, den
alten ähnliche Waffen zu retten suchen. Nicht uninteressant möchte
eS sein, eine Geschichte der Lügen unserer Zeit zu schreiben.
Eine wahre Musterkarte derselben könnte man zu Tage fördern, deut¬
liche und versteckte Lügen. Man würde erstaunen über die Kühnheit
einiger dieser Lügen, lachen über die Wendungen, die andere wieder
nehmen, um als Wahrheit zu erscheinen. Mit Selbstgefälligkeit tre¬
ten einige hervor, mit Bescheidenheit- andere, listig die einen, täppisch
die andern. Dabei wechseln sie fortwährend die Rollen, heute gilt
diese, morgen jene; keine, die nicht ihre Verehrerzählt, keine, die nicht
trachtet, der andern den Sieg streitig zu machen.

Das aber grade ist das Unglück unserer Zeit, daß wir von so
vielen Lügen umgeben, gleichsam belagert sind, und noch mehr, dies
nicht einmal wissen wollen. Beides ist aber Feigheit, mag man vor
den Resultaten seines eignen Nachdenkens erschrecken, mag man sie
nicht anerkennen wollen. Freilich liegt in diesem Verstecken oft alle


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[0605] Ideen nicht widersetzen, — wer kann alle die Verhältnisse aufzählen, unter denen eine Partei ihren wahren Charakter zu verstecken sucht. Mangel an Nachdenken führt Selbsttäuschung herbei, die um so leich¬ ter entsteht, je geneigter man ist, das für wahr zu halten, was man wünscht. Eine solche Lage führt aber für eine Partei manche Ge¬ fahr herbei. Im umgekehrten Fall sind die Handelnden wenigstens ihres Zweckes sich bewußt, hier hält man aus Ungeschicklichkeit das verkehrte Ziel für das wahre. Aber unerbittlich wird die Zeit im Verlauf der Begebenheiten alle Irrthümer aufvecken, und wehe dem Schwachen, der vor seinen eignen Consequenzen erschrickt! Es gibt aber noch eine besondere Art von Selbsttäuschung, und an dieser ist unsere Zeit besonders reich. Sie besteht darin, daß man zwar ent¬ fernt die Consequenzen mehr oder weniger deutlich sieht oder ahnt, aber es nicht wagt, sie klar zu denken oder gar auszusprechen. Meistentheils haben daran die Zeitumstände Schuld, in denen es gefährlich ist, gewisse Bestrebungen geradezu an's Licht zu bringen. Diese Parteien haben ihre Stärke und ihre Schwäche. Ihre Stärke darin, daß sie ihres Zwecks nicht ganz unbewußt sind, also von einem richtigen Gefühl geleitet, das Verderbliche abzuwenden und ihre Zwecke zu befördern wissen; ihre Schwäche aber, daß sie, wenn es darauf ankommt, sich klar auszusprechen und die Consequenzen ihrer Systeme hinzunehmen, scheu zurückweichen und sich vielleicht durch neue, den alten ähnliche Waffen zu retten suchen. Nicht uninteressant möchte eS sein, eine Geschichte der Lügen unserer Zeit zu schreiben. Eine wahre Musterkarte derselben könnte man zu Tage fördern, deut¬ liche und versteckte Lügen. Man würde erstaunen über die Kühnheit einiger dieser Lügen, lachen über die Wendungen, die andere wieder nehmen, um als Wahrheit zu erscheinen. Mit Selbstgefälligkeit tre¬ ten einige hervor, mit Bescheidenheit- andere, listig die einen, täppisch die andern. Dabei wechseln sie fortwährend die Rollen, heute gilt diese, morgen jene; keine, die nicht ihre Verehrerzählt, keine, die nicht trachtet, der andern den Sieg streitig zu machen. Das aber grade ist das Unglück unserer Zeit, daß wir von so vielen Lügen umgeben, gleichsam belagert sind, und noch mehr, dies nicht einmal wissen wollen. Beides ist aber Feigheit, mag man vor den Resultaten seines eignen Nachdenkens erschrecken, mag man sie nicht anerkennen wollen. Freilich liegt in diesem Verstecken oft alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/605>, abgerufen am 22.07.2024.