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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Dies Gesetz ist nirgends und nie zurückgenommen. Es kann
verfassungsmäßig nicht ohne Zuziehung der Provinzialstände aufge-
hoben werden. Das Volk hat ein Recht auf die Erfüllung des Ge¬
setzes. Es hofft "im Vertrauen" auf die "freie Entschließung, die
jene Zusicherung gab," daß man endlich "den Zeitpunkt zu ihrer Er¬
füllung geeignet finden werde."°i-) Daß dieser Zeitpunkt eingetre¬
ten, schien nicht unwahrscheinlich, da man voraussetzen muß, daß
in den hohem Regionen des Staates die allgemeine Stimmung, die
öffentliche Meinung nicht, unbekannt ist. Die letzten Landtagsabschiede
hatten das Bedürfniß einer Landgemeindeordnung durchaus nicht an¬
erkannt, und die diesfalsigen Petitionen zurückgewiesen. Der Aufstand
der Weber in Schlesien wies auf das Bedürfniß einer Landgemeinde¬
ordnung hin, zeugte von der Nothwendigkeit derselben. Es war eine
Thatsache, die in den obern Regionen des Staats wohl die Ueber¬
zeugung zur Reife bringen konnte, daß das patriarchalische Bevor¬
mundungssystem unhaltbar, daß man die mittelalterlichen Ruinen, die
unser Staatsleben noch verunstalten, hinwegräumen^, daß man
das Prinzip der Selbstverwaltung zur Anerkennung und Durchfüh¬
rung bringen müsse. Es waren nicht die Männer der "hohlen Theo¬
rien", sondern Mitglieder der Aristokratie, des Nährstandes, die als
Organe der öffentlichen Meinung die UnHaltbarkeit der jetzigen Zu¬
stände aussprachen, nachdem ein Mitglied der Verwaltung, der Staats¬
minister von Schön, erklärt: "Die Zeit der sogenannten väterlichen
oder Patrimonialregierung, für welche das Volk aus einer Masse Un¬
mündiger bestehen und sich beliebig leiten und führen lassen soll, läßt
sich nicht zurückführen."

Die Landtagspropositionen haben den Erwartungen nicht ent¬
sprochen. Sie betreffen untergeordnete Gegenstände, durchaus keine
Prinzipienfrage. Sie sind, wie der Herr Landtagscommissarius beim
Rheinischen Landtage selbst bemerkt: "weder von der Bedeutung noch
von dem Umfange, wie die, welche die Abgeordneten auf dem letzten
Landtage beschäftigten." Verordnungen über bauliche Unterhaltung
der Schul- und Kirchenhäuser, über Gestndedienstbücher, oder Auf¬
hebung des AbdeckereizwangS, Transportkosten der Bettler und Vaga-



*) Worte Friedrich Wilhelm's III. in dem Kabinetsschreiben v. 21.
März ISIS.

Dies Gesetz ist nirgends und nie zurückgenommen. Es kann
verfassungsmäßig nicht ohne Zuziehung der Provinzialstände aufge-
hoben werden. Das Volk hat ein Recht auf die Erfüllung des Ge¬
setzes. Es hofft „im Vertrauen" auf die „freie Entschließung, die
jene Zusicherung gab," daß man endlich „den Zeitpunkt zu ihrer Er¬
füllung geeignet finden werde."°i-) Daß dieser Zeitpunkt eingetre¬
ten, schien nicht unwahrscheinlich, da man voraussetzen muß, daß
in den hohem Regionen des Staates die allgemeine Stimmung, die
öffentliche Meinung nicht, unbekannt ist. Die letzten Landtagsabschiede
hatten das Bedürfniß einer Landgemeindeordnung durchaus nicht an¬
erkannt, und die diesfalsigen Petitionen zurückgewiesen. Der Aufstand
der Weber in Schlesien wies auf das Bedürfniß einer Landgemeinde¬
ordnung hin, zeugte von der Nothwendigkeit derselben. Es war eine
Thatsache, die in den obern Regionen des Staats wohl die Ueber¬
zeugung zur Reife bringen konnte, daß das patriarchalische Bevor¬
mundungssystem unhaltbar, daß man die mittelalterlichen Ruinen, die
unser Staatsleben noch verunstalten, hinwegräumen^, daß man
das Prinzip der Selbstverwaltung zur Anerkennung und Durchfüh¬
rung bringen müsse. Es waren nicht die Männer der „hohlen Theo¬
rien", sondern Mitglieder der Aristokratie, des Nährstandes, die als
Organe der öffentlichen Meinung die UnHaltbarkeit der jetzigen Zu¬
stände aussprachen, nachdem ein Mitglied der Verwaltung, der Staats¬
minister von Schön, erklärt: „Die Zeit der sogenannten väterlichen
oder Patrimonialregierung, für welche das Volk aus einer Masse Un¬
mündiger bestehen und sich beliebig leiten und führen lassen soll, läßt
sich nicht zurückführen."

Die Landtagspropositionen haben den Erwartungen nicht ent¬
sprochen. Sie betreffen untergeordnete Gegenstände, durchaus keine
Prinzipienfrage. Sie sind, wie der Herr Landtagscommissarius beim
Rheinischen Landtage selbst bemerkt: „weder von der Bedeutung noch
von dem Umfange, wie die, welche die Abgeordneten auf dem letzten
Landtage beschäftigten." Verordnungen über bauliche Unterhaltung
der Schul- und Kirchenhäuser, über Gestndedienstbücher, oder Auf¬
hebung des AbdeckereizwangS, Transportkosten der Bettler und Vaga-



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[0455] Dies Gesetz ist nirgends und nie zurückgenommen. Es kann verfassungsmäßig nicht ohne Zuziehung der Provinzialstände aufge- hoben werden. Das Volk hat ein Recht auf die Erfüllung des Ge¬ setzes. Es hofft „im Vertrauen" auf die „freie Entschließung, die jene Zusicherung gab," daß man endlich „den Zeitpunkt zu ihrer Er¬ füllung geeignet finden werde."°i-) Daß dieser Zeitpunkt eingetre¬ ten, schien nicht unwahrscheinlich, da man voraussetzen muß, daß in den hohem Regionen des Staates die allgemeine Stimmung, die öffentliche Meinung nicht, unbekannt ist. Die letzten Landtagsabschiede hatten das Bedürfniß einer Landgemeindeordnung durchaus nicht an¬ erkannt, und die diesfalsigen Petitionen zurückgewiesen. Der Aufstand der Weber in Schlesien wies auf das Bedürfniß einer Landgemeinde¬ ordnung hin, zeugte von der Nothwendigkeit derselben. Es war eine Thatsache, die in den obern Regionen des Staats wohl die Ueber¬ zeugung zur Reife bringen konnte, daß das patriarchalische Bevor¬ mundungssystem unhaltbar, daß man die mittelalterlichen Ruinen, die unser Staatsleben noch verunstalten, hinwegräumen^, daß man das Prinzip der Selbstverwaltung zur Anerkennung und Durchfüh¬ rung bringen müsse. Es waren nicht die Männer der „hohlen Theo¬ rien", sondern Mitglieder der Aristokratie, des Nährstandes, die als Organe der öffentlichen Meinung die UnHaltbarkeit der jetzigen Zu¬ stände aussprachen, nachdem ein Mitglied der Verwaltung, der Staats¬ minister von Schön, erklärt: „Die Zeit der sogenannten väterlichen oder Patrimonialregierung, für welche das Volk aus einer Masse Un¬ mündiger bestehen und sich beliebig leiten und führen lassen soll, läßt sich nicht zurückführen." Die Landtagspropositionen haben den Erwartungen nicht ent¬ sprochen. Sie betreffen untergeordnete Gegenstände, durchaus keine Prinzipienfrage. Sie sind, wie der Herr Landtagscommissarius beim Rheinischen Landtage selbst bemerkt: „weder von der Bedeutung noch von dem Umfange, wie die, welche die Abgeordneten auf dem letzten Landtage beschäftigten." Verordnungen über bauliche Unterhaltung der Schul- und Kirchenhäuser, über Gestndedienstbücher, oder Auf¬ hebung des AbdeckereizwangS, Transportkosten der Bettler und Vaga- *) Worte Friedrich Wilhelm's III. in dem Kabinetsschreiben v. 21. März ISIS.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/455>, abgerufen am 23.07.2024.