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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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cher sich aus Unwissenheit den Wunderkuren in die Arme wirft, man
sieht in der Busselstraße glänzende Equipagen hatten und vornehme
Hypochondristen, sowie Damen in seidenen Gewändern und mit aristo¬
kratischem Ambra, von der Hysterie und Langeweile geplagt, das Ar-
canum erwarten. Ein das Leben vergiftender Pietismus, eine in furcht¬
barer Langeweile zugespitzte Halbbildung, das mögen vor allen an¬
dern die Ursachen sein, welche im Stande gewesen sind, hie und da solche
traurige Erscheinungen hervorzutreiben und den Eharakter der Verstän¬
digkeit, auf welchen Berlin so stolz ist, zu compromittiren. --
Allerdings zeigt sich jetzt auch im Volke eine Lust an Märchen und Fa¬
beln; aber das Volk befriedigt diesen Trieb durch Erfindung der tollsten
Mord- und Todtschlagsgeschichtcn, welche dann wie Schreckbilder durch
das wohlbcwachte Berlin laufen, wo an jeder Straßenecke wenigstens
ein Gensd'arm steht. Die Geschichte von der Frau mit dem Todten-
kopfe ist von unserem genialen Dieffenbach in seiner "operativen
Chirurgie" als eine Thatsache erzählt worden, der freilich erfahrene
Aerzte und Operateure noch immer keinen Glauben schenken wollen,
in neuster Zeit aber spukte hier die Geschichte von einem alten Weibe,
einer rechten Eule, die ein Kind vom Weihnachtsmarkte geraubt und
es auf die empörendste Art gemißhandelt, ihm unter andern spanische
Fliegen auf die Augen gelegt haben sollte. Das Polizeipräsidium hat
sich genöthigt gesehen, diesem Gerüchte entgegenzutreten. In diesen
Tagen erzählt man sich nun wieder allgemein, daß der Brandstifter
des Opernhauses sich in der Person eines Choristen auf dem Ccimi-
nalgcrichte gemeldet habe. Was wahres an diesem Gerüchte ist, wird
die Zukunft beweisen. Wie aber die Schwängerung der Nolksphan-
tasie mit Blut- und Mordgeschichten schon im allgemeinen das Inte¬
resse der Criminalisten und Psychologen verlangt, so dürfte die hier
jetzt häufig vorkommende Selbst-Anklage vieler Verbrecher und selbst
vieler Unschuldigen, die behaupten irgend ein scheußliches Verbrechen
begangen zu haben, noch wichtiger für die socialen Zustande unserer
großen Stadt erscheinen. Was treibt das Volk, Verbrechen der
scheußlichsten Art zu erdichten? Was treibt die Verbrecher und noch
mehr die Unschuldigen zu solchen unnatürlichen Selbstanklagen, wie sie
hier jetzt so mannichfach vorkommen ? Eben so war das ganze politische
Berlin dieser Tage voll wunderbarer Gerüchte, daß Se. Majestät den
jetzigen Zeitpunkt als den bezeichnet habe, in dem sein Volk reif sei, aus
seinen höchst eignen Händen eine Eonstitution zu empfangen. Man nannte
die Staatsmänner, von denen diese preußische Eonstitution ausgearbei¬
tet sein sollte, man bestimmte sogar schon den für die öffentliche Pro¬
klamation derselben angesetzten Tag und freute sich auf den Kravall und
die Zweckessen, die es jedenfalls geben würde. Eben so war in diesen
Kreisen viel von einer kommenden Preßfreiheit die Rede. Sie sollte
jedoch einigermaßen im altpreußischen Schnürstiefel erscheinen. Jedem


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cher sich aus Unwissenheit den Wunderkuren in die Arme wirft, man
sieht in der Busselstraße glänzende Equipagen hatten und vornehme
Hypochondristen, sowie Damen in seidenen Gewändern und mit aristo¬
kratischem Ambra, von der Hysterie und Langeweile geplagt, das Ar-
canum erwarten. Ein das Leben vergiftender Pietismus, eine in furcht¬
barer Langeweile zugespitzte Halbbildung, das mögen vor allen an¬
dern die Ursachen sein, welche im Stande gewesen sind, hie und da solche
traurige Erscheinungen hervorzutreiben und den Eharakter der Verstän¬
digkeit, auf welchen Berlin so stolz ist, zu compromittiren. —
Allerdings zeigt sich jetzt auch im Volke eine Lust an Märchen und Fa¬
beln; aber das Volk befriedigt diesen Trieb durch Erfindung der tollsten
Mord- und Todtschlagsgeschichtcn, welche dann wie Schreckbilder durch
das wohlbcwachte Berlin laufen, wo an jeder Straßenecke wenigstens
ein Gensd'arm steht. Die Geschichte von der Frau mit dem Todten-
kopfe ist von unserem genialen Dieffenbach in seiner „operativen
Chirurgie" als eine Thatsache erzählt worden, der freilich erfahrene
Aerzte und Operateure noch immer keinen Glauben schenken wollen,
in neuster Zeit aber spukte hier die Geschichte von einem alten Weibe,
einer rechten Eule, die ein Kind vom Weihnachtsmarkte geraubt und
es auf die empörendste Art gemißhandelt, ihm unter andern spanische
Fliegen auf die Augen gelegt haben sollte. Das Polizeipräsidium hat
sich genöthigt gesehen, diesem Gerüchte entgegenzutreten. In diesen
Tagen erzählt man sich nun wieder allgemein, daß der Brandstifter
des Opernhauses sich in der Person eines Choristen auf dem Ccimi-
nalgcrichte gemeldet habe. Was wahres an diesem Gerüchte ist, wird
die Zukunft beweisen. Wie aber die Schwängerung der Nolksphan-
tasie mit Blut- und Mordgeschichten schon im allgemeinen das Inte¬
resse der Criminalisten und Psychologen verlangt, so dürfte die hier
jetzt häufig vorkommende Selbst-Anklage vieler Verbrecher und selbst
vieler Unschuldigen, die behaupten irgend ein scheußliches Verbrechen
begangen zu haben, noch wichtiger für die socialen Zustande unserer
großen Stadt erscheinen. Was treibt das Volk, Verbrechen der
scheußlichsten Art zu erdichten? Was treibt die Verbrecher und noch
mehr die Unschuldigen zu solchen unnatürlichen Selbstanklagen, wie sie
hier jetzt so mannichfach vorkommen ? Eben so war das ganze politische
Berlin dieser Tage voll wunderbarer Gerüchte, daß Se. Majestät den
jetzigen Zeitpunkt als den bezeichnet habe, in dem sein Volk reif sei, aus
seinen höchst eignen Händen eine Eonstitution zu empfangen. Man nannte
die Staatsmänner, von denen diese preußische Eonstitution ausgearbei¬
tet sein sollte, man bestimmte sogar schon den für die öffentliche Pro¬
klamation derselben angesetzten Tag und freute sich auf den Kravall und
die Zweckessen, die es jedenfalls geben würde. Eben so war in diesen
Kreisen viel von einer kommenden Preßfreiheit die Rede. Sie sollte
jedoch einigermaßen im altpreußischen Schnürstiefel erscheinen. Jedem


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[0437] cher sich aus Unwissenheit den Wunderkuren in die Arme wirft, man sieht in der Busselstraße glänzende Equipagen hatten und vornehme Hypochondristen, sowie Damen in seidenen Gewändern und mit aristo¬ kratischem Ambra, von der Hysterie und Langeweile geplagt, das Ar- canum erwarten. Ein das Leben vergiftender Pietismus, eine in furcht¬ barer Langeweile zugespitzte Halbbildung, das mögen vor allen an¬ dern die Ursachen sein, welche im Stande gewesen sind, hie und da solche traurige Erscheinungen hervorzutreiben und den Eharakter der Verstän¬ digkeit, auf welchen Berlin so stolz ist, zu compromittiren. — Allerdings zeigt sich jetzt auch im Volke eine Lust an Märchen und Fa¬ beln; aber das Volk befriedigt diesen Trieb durch Erfindung der tollsten Mord- und Todtschlagsgeschichtcn, welche dann wie Schreckbilder durch das wohlbcwachte Berlin laufen, wo an jeder Straßenecke wenigstens ein Gensd'arm steht. Die Geschichte von der Frau mit dem Todten- kopfe ist von unserem genialen Dieffenbach in seiner „operativen Chirurgie" als eine Thatsache erzählt worden, der freilich erfahrene Aerzte und Operateure noch immer keinen Glauben schenken wollen, in neuster Zeit aber spukte hier die Geschichte von einem alten Weibe, einer rechten Eule, die ein Kind vom Weihnachtsmarkte geraubt und es auf die empörendste Art gemißhandelt, ihm unter andern spanische Fliegen auf die Augen gelegt haben sollte. Das Polizeipräsidium hat sich genöthigt gesehen, diesem Gerüchte entgegenzutreten. In diesen Tagen erzählt man sich nun wieder allgemein, daß der Brandstifter des Opernhauses sich in der Person eines Choristen auf dem Ccimi- nalgcrichte gemeldet habe. Was wahres an diesem Gerüchte ist, wird die Zukunft beweisen. Wie aber die Schwängerung der Nolksphan- tasie mit Blut- und Mordgeschichten schon im allgemeinen das Inte¬ resse der Criminalisten und Psychologen verlangt, so dürfte die hier jetzt häufig vorkommende Selbst-Anklage vieler Verbrecher und selbst vieler Unschuldigen, die behaupten irgend ein scheußliches Verbrechen begangen zu haben, noch wichtiger für die socialen Zustande unserer großen Stadt erscheinen. Was treibt das Volk, Verbrechen der scheußlichsten Art zu erdichten? Was treibt die Verbrecher und noch mehr die Unschuldigen zu solchen unnatürlichen Selbstanklagen, wie sie hier jetzt so mannichfach vorkommen ? Eben so war das ganze politische Berlin dieser Tage voll wunderbarer Gerüchte, daß Se. Majestät den jetzigen Zeitpunkt als den bezeichnet habe, in dem sein Volk reif sei, aus seinen höchst eignen Händen eine Eonstitution zu empfangen. Man nannte die Staatsmänner, von denen diese preußische Eonstitution ausgearbei¬ tet sein sollte, man bestimmte sogar schon den für die öffentliche Pro¬ klamation derselben angesetzten Tag und freute sich auf den Kravall und die Zweckessen, die es jedenfalls geben würde. Eben so war in diesen Kreisen viel von einer kommenden Preßfreiheit die Rede. Sie sollte jedoch einigermaßen im altpreußischen Schnürstiefel erscheinen. Jedem 55*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/437>, abgerufen am 22.07.2024.