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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Ameublement und Bau der Schlösser, dem Nennen und Wetten, den
Jagden und Jagdreviers, den Parks und gothischen Constructionen,
Fasanerien, Menagerien, Treibhäusern, Sammlung aller Wunder der
Welt, dem Ball mit so viel Brillanten, daß die Zeitungen die ganze
Welt herausforderten, Gleiches aufzubringen u. s. w. zu vergleichen.
Der Einheimische hat da gar kein Urtheil, die Gewohnheit stumpft
ihn ab. Der Reisende urtheilt, je nachdem er in reiche und arme
Gegenden, in freundliche oder unfreundliche, in sittliche oder unsitt¬
liche Umgebungen geräth; nur Jahre, nur lange Prüfung der sämmt¬
lichen Actenstücke geben ein sicheres Resultat. Wer vierzig Jahre
lang täglich aus Eramen und Kreuzeramen (cross examinatwn) von
mehreren tausend Menschen in Gerichten und Parlamentsausschüssen
den inneren Zustand ganzer Familien, Kreise und Stände hat ken¬
nen lernen, den täuscht weder die strenge Sabathfeier, noch die bis
zur höchsten Lächerlichkeit getriebene Scheinheiligkeit der höheren Stände,
noch wunderliche Rücksicht auf eine Art Decenz, die das Strumpf¬
stricken verbietet und die Hosen nicht zu nennen erlaubt, man sucht
ihn vergeblich irre zu leiten. Je umfassender Schlosser's Quellenkennt¬
niß ist, desto eher ist er berechtigt, zu fordern, daß ihm einzelne kleine
Irrthümer nicht als so arge Sünden angerechnet werden, wie dies
in Berlin geschehen ist und, irren wir nicht, noch geschieht.,

Der dritte Hauptvorzug Schlosser's beruht nach der unbeding¬
ten Aufrichtigkeit und ungemeinen Sachkenntniß in seiner Methode.
In ihr ist durch ihn ein großer Fortschritt gemacht.

Unsere gewöhnliche sogenannte Geschichte enthält nämlich fol¬
gende Bestandtheile: 1) Charakteristiken der gebietenden Persönlich¬
keiten, die Angabe der Verwandtschaften und der vornehmsten Tha¬
ten der Herrscher; 2) Berichte von Kriegen; 3) die Veränderungen
im Umfang der Reiche; 4) oftmals seit Pütter und Spittler, doch
immer noch nicht durchgehends, die Umwälzungen, welche die Form
der Staatsverfassung erfahren hat und endlich: 5) ein wahres Sam¬
melsurium von allerlei Nachrichten, welche der Geschichtschreiber
nicht unterzubringen weiß. Man nennt das den culturhistorischen
Theil oder die "Sittengeschichte", und es erscheint als ein kurzer An¬
hang oder Nachtrag zu der Staatshistorie. In der Regel fällt diese
Partie sehr mager und trocken aus. Einige Bruchstücke aus der
Geschichte der poetischen Nationalliteraturen sowie der Kirche, etwas


Grenztot-n 1S44. n. 26

Ameublement und Bau der Schlösser, dem Nennen und Wetten, den
Jagden und Jagdreviers, den Parks und gothischen Constructionen,
Fasanerien, Menagerien, Treibhäusern, Sammlung aller Wunder der
Welt, dem Ball mit so viel Brillanten, daß die Zeitungen die ganze
Welt herausforderten, Gleiches aufzubringen u. s. w. zu vergleichen.
Der Einheimische hat da gar kein Urtheil, die Gewohnheit stumpft
ihn ab. Der Reisende urtheilt, je nachdem er in reiche und arme
Gegenden, in freundliche oder unfreundliche, in sittliche oder unsitt¬
liche Umgebungen geräth; nur Jahre, nur lange Prüfung der sämmt¬
lichen Actenstücke geben ein sicheres Resultat. Wer vierzig Jahre
lang täglich aus Eramen und Kreuzeramen (cross examinatwn) von
mehreren tausend Menschen in Gerichten und Parlamentsausschüssen
den inneren Zustand ganzer Familien, Kreise und Stände hat ken¬
nen lernen, den täuscht weder die strenge Sabathfeier, noch die bis
zur höchsten Lächerlichkeit getriebene Scheinheiligkeit der höheren Stände,
noch wunderliche Rücksicht auf eine Art Decenz, die das Strumpf¬
stricken verbietet und die Hosen nicht zu nennen erlaubt, man sucht
ihn vergeblich irre zu leiten. Je umfassender Schlosser's Quellenkennt¬
niß ist, desto eher ist er berechtigt, zu fordern, daß ihm einzelne kleine
Irrthümer nicht als so arge Sünden angerechnet werden, wie dies
in Berlin geschehen ist und, irren wir nicht, noch geschieht.,

Der dritte Hauptvorzug Schlosser's beruht nach der unbeding¬
ten Aufrichtigkeit und ungemeinen Sachkenntniß in seiner Methode.
In ihr ist durch ihn ein großer Fortschritt gemacht.

Unsere gewöhnliche sogenannte Geschichte enthält nämlich fol¬
gende Bestandtheile: 1) Charakteristiken der gebietenden Persönlich¬
keiten, die Angabe der Verwandtschaften und der vornehmsten Tha¬
ten der Herrscher; 2) Berichte von Kriegen; 3) die Veränderungen
im Umfang der Reiche; 4) oftmals seit Pütter und Spittler, doch
immer noch nicht durchgehends, die Umwälzungen, welche die Form
der Staatsverfassung erfahren hat und endlich: 5) ein wahres Sam¬
melsurium von allerlei Nachrichten, welche der Geschichtschreiber
nicht unterzubringen weiß. Man nennt das den culturhistorischen
Theil oder die „Sittengeschichte", und es erscheint als ein kurzer An¬
hang oder Nachtrag zu der Staatshistorie. In der Regel fällt diese
Partie sehr mager und trocken aus. Einige Bruchstücke aus der
Geschichte der poetischen Nationalliteraturen sowie der Kirche, etwas


Grenztot-n 1S44. n. 26
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[0205] Ameublement und Bau der Schlösser, dem Nennen und Wetten, den Jagden und Jagdreviers, den Parks und gothischen Constructionen, Fasanerien, Menagerien, Treibhäusern, Sammlung aller Wunder der Welt, dem Ball mit so viel Brillanten, daß die Zeitungen die ganze Welt herausforderten, Gleiches aufzubringen u. s. w. zu vergleichen. Der Einheimische hat da gar kein Urtheil, die Gewohnheit stumpft ihn ab. Der Reisende urtheilt, je nachdem er in reiche und arme Gegenden, in freundliche oder unfreundliche, in sittliche oder unsitt¬ liche Umgebungen geräth; nur Jahre, nur lange Prüfung der sämmt¬ lichen Actenstücke geben ein sicheres Resultat. Wer vierzig Jahre lang täglich aus Eramen und Kreuzeramen (cross examinatwn) von mehreren tausend Menschen in Gerichten und Parlamentsausschüssen den inneren Zustand ganzer Familien, Kreise und Stände hat ken¬ nen lernen, den täuscht weder die strenge Sabathfeier, noch die bis zur höchsten Lächerlichkeit getriebene Scheinheiligkeit der höheren Stände, noch wunderliche Rücksicht auf eine Art Decenz, die das Strumpf¬ stricken verbietet und die Hosen nicht zu nennen erlaubt, man sucht ihn vergeblich irre zu leiten. Je umfassender Schlosser's Quellenkennt¬ niß ist, desto eher ist er berechtigt, zu fordern, daß ihm einzelne kleine Irrthümer nicht als so arge Sünden angerechnet werden, wie dies in Berlin geschehen ist und, irren wir nicht, noch geschieht., Der dritte Hauptvorzug Schlosser's beruht nach der unbeding¬ ten Aufrichtigkeit und ungemeinen Sachkenntniß in seiner Methode. In ihr ist durch ihn ein großer Fortschritt gemacht. Unsere gewöhnliche sogenannte Geschichte enthält nämlich fol¬ gende Bestandtheile: 1) Charakteristiken der gebietenden Persönlich¬ keiten, die Angabe der Verwandtschaften und der vornehmsten Tha¬ ten der Herrscher; 2) Berichte von Kriegen; 3) die Veränderungen im Umfang der Reiche; 4) oftmals seit Pütter und Spittler, doch immer noch nicht durchgehends, die Umwälzungen, welche die Form der Staatsverfassung erfahren hat und endlich: 5) ein wahres Sam¬ melsurium von allerlei Nachrichten, welche der Geschichtschreiber nicht unterzubringen weiß. Man nennt das den culturhistorischen Theil oder die „Sittengeschichte", und es erscheint als ein kurzer An¬ hang oder Nachtrag zu der Staatshistorie. In der Regel fällt diese Partie sehr mager und trocken aus. Einige Bruchstücke aus der Geschichte der poetischen Nationalliteraturen sowie der Kirche, etwas Grenztot-n 1S44. n. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/205>, abgerufen am 06.10.2024.