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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Es kostete viele Mühe, sie zum Leben zurückzubringen. Als sie sich
einigermaßen erholt hatte, führte ich sie hinab, setzte sie in eine
Droschke und fuhr mit ihr nach Hause. Beim Aussteigen bemerkte
ich, daß sie noch immer zu matt war, um allein gehen zu können,
und obwohl sie auf dem Hausflur zögerte und sich anstrengte, sich
von mir zu verabschieden, mußte ich sie doch bis zu ihrem Zimmer
begleiten. Wir stiegen die Kellertreppe hinab und kamen durch meh¬
rere stockfinstere Gänge, aus denen mir ein feuchter Erdgeruch ent¬
gegendrang. Als wir endlich im Zimmer waren und ich mit einem
Streichhölzchen die Lampe auf dem Tische angezündet hatte, konnte
ich mir wohl erklären, warum die ambitiöse Berlinerin mich nicht
hatte mit hinabnehmen wollen. Sie war auch, als ich sie an
jenem Abend zum ersten Male sprach, deshalb erst auf den Hof ge¬
gangen. Es war dies nämlich nicht eine von jenen zierlichen, Hoch¬
herauf gebauten, mehr dem Tageslichte zugekehrten Kellerwohnungen,
wie sie sich in vielen Berliner Häusern unter dem Namen souter¬
rains befinden, sondern der Raum, der in andern Häusern zum Auf¬
enthaltsort von Kartoffeln und anderem dergleichen Bedarf bestimmt
ist, war in dem Hause des Herrn Wonnig noch eine Wohnung
für Menschen. Er selbst hatte mit seinen kleinen Kindern in einem
dieser Gewölbe gewohnt, bevor er oben das Stübchen der Professo¬
rin bezogen. Das sogenannte Zimmer, in dem ich mich befand, war
ziemlich lang, doch so niedrig, daß ich mich setzen oder bücken mußte,
um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen; in die Kellerlöcher,
die sonst offen bleiben, hatte man kleine Glasscheiben eingesetzt, und
als ich die Wände betastete, wurde mir die Hand von der herab¬
rieselnden Feuchtigkeit naß. In diesem Zimmer lag die schlanke Ty-
rolerin, die sich noch vor einigen Stunden so lustig durch die Säle
des Colosseums gedreht hatte, noch im vollen Maskenputze halb ohn¬
mächtig auf dem Sopha. Sie war noch immer so schwach und be¬
täubt, daß sie weder sprechen, noch meine Fragen und Tröstungen
hören konnte. Endlich richtete sie sich auf und bat mich, sie zu ver¬
lassen. Ich ging mit dem Versprechen, mich am anderen Morgen
wieder nach ihr zu erkundigen.

Als ich in aller Frühe wieder hinabgestiegen war und mich
glücklich durch die finsteren Gänge hindurchgewunden hatte, traute
ich meinen Augen kaum, als ich Herrn Alir lang ausgestreckt auf


Es kostete viele Mühe, sie zum Leben zurückzubringen. Als sie sich
einigermaßen erholt hatte, führte ich sie hinab, setzte sie in eine
Droschke und fuhr mit ihr nach Hause. Beim Aussteigen bemerkte
ich, daß sie noch immer zu matt war, um allein gehen zu können,
und obwohl sie auf dem Hausflur zögerte und sich anstrengte, sich
von mir zu verabschieden, mußte ich sie doch bis zu ihrem Zimmer
begleiten. Wir stiegen die Kellertreppe hinab und kamen durch meh¬
rere stockfinstere Gänge, aus denen mir ein feuchter Erdgeruch ent¬
gegendrang. Als wir endlich im Zimmer waren und ich mit einem
Streichhölzchen die Lampe auf dem Tische angezündet hatte, konnte
ich mir wohl erklären, warum die ambitiöse Berlinerin mich nicht
hatte mit hinabnehmen wollen. Sie war auch, als ich sie an
jenem Abend zum ersten Male sprach, deshalb erst auf den Hof ge¬
gangen. Es war dies nämlich nicht eine von jenen zierlichen, Hoch¬
herauf gebauten, mehr dem Tageslichte zugekehrten Kellerwohnungen,
wie sie sich in vielen Berliner Häusern unter dem Namen souter¬
rains befinden, sondern der Raum, der in andern Häusern zum Auf¬
enthaltsort von Kartoffeln und anderem dergleichen Bedarf bestimmt
ist, war in dem Hause des Herrn Wonnig noch eine Wohnung
für Menschen. Er selbst hatte mit seinen kleinen Kindern in einem
dieser Gewölbe gewohnt, bevor er oben das Stübchen der Professo¬
rin bezogen. Das sogenannte Zimmer, in dem ich mich befand, war
ziemlich lang, doch so niedrig, daß ich mich setzen oder bücken mußte,
um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen; in die Kellerlöcher,
die sonst offen bleiben, hatte man kleine Glasscheiben eingesetzt, und
als ich die Wände betastete, wurde mir die Hand von der herab¬
rieselnden Feuchtigkeit naß. In diesem Zimmer lag die schlanke Ty-
rolerin, die sich noch vor einigen Stunden so lustig durch die Säle
des Colosseums gedreht hatte, noch im vollen Maskenputze halb ohn¬
mächtig auf dem Sopha. Sie war noch immer so schwach und be¬
täubt, daß sie weder sprechen, noch meine Fragen und Tröstungen
hören konnte. Endlich richtete sie sich auf und bat mich, sie zu ver¬
lassen. Ich ging mit dem Versprechen, mich am anderen Morgen
wieder nach ihr zu erkundigen.

Als ich in aller Frühe wieder hinabgestiegen war und mich
glücklich durch die finsteren Gänge hindurchgewunden hatte, traute
ich meinen Augen kaum, als ich Herrn Alir lang ausgestreckt auf


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[0404] Es kostete viele Mühe, sie zum Leben zurückzubringen. Als sie sich einigermaßen erholt hatte, führte ich sie hinab, setzte sie in eine Droschke und fuhr mit ihr nach Hause. Beim Aussteigen bemerkte ich, daß sie noch immer zu matt war, um allein gehen zu können, und obwohl sie auf dem Hausflur zögerte und sich anstrengte, sich von mir zu verabschieden, mußte ich sie doch bis zu ihrem Zimmer begleiten. Wir stiegen die Kellertreppe hinab und kamen durch meh¬ rere stockfinstere Gänge, aus denen mir ein feuchter Erdgeruch ent¬ gegendrang. Als wir endlich im Zimmer waren und ich mit einem Streichhölzchen die Lampe auf dem Tische angezündet hatte, konnte ich mir wohl erklären, warum die ambitiöse Berlinerin mich nicht hatte mit hinabnehmen wollen. Sie war auch, als ich sie an jenem Abend zum ersten Male sprach, deshalb erst auf den Hof ge¬ gangen. Es war dies nämlich nicht eine von jenen zierlichen, Hoch¬ herauf gebauten, mehr dem Tageslichte zugekehrten Kellerwohnungen, wie sie sich in vielen Berliner Häusern unter dem Namen souter¬ rains befinden, sondern der Raum, der in andern Häusern zum Auf¬ enthaltsort von Kartoffeln und anderem dergleichen Bedarf bestimmt ist, war in dem Hause des Herrn Wonnig noch eine Wohnung für Menschen. Er selbst hatte mit seinen kleinen Kindern in einem dieser Gewölbe gewohnt, bevor er oben das Stübchen der Professo¬ rin bezogen. Das sogenannte Zimmer, in dem ich mich befand, war ziemlich lang, doch so niedrig, daß ich mich setzen oder bücken mußte, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen; in die Kellerlöcher, die sonst offen bleiben, hatte man kleine Glasscheiben eingesetzt, und als ich die Wände betastete, wurde mir die Hand von der herab¬ rieselnden Feuchtigkeit naß. In diesem Zimmer lag die schlanke Ty- rolerin, die sich noch vor einigen Stunden so lustig durch die Säle des Colosseums gedreht hatte, noch im vollen Maskenputze halb ohn¬ mächtig auf dem Sopha. Sie war noch immer so schwach und be¬ täubt, daß sie weder sprechen, noch meine Fragen und Tröstungen hören konnte. Endlich richtete sie sich auf und bat mich, sie zu ver¬ lassen. Ich ging mit dem Versprechen, mich am anderen Morgen wieder nach ihr zu erkundigen. Als ich in aller Frühe wieder hinabgestiegen war und mich glücklich durch die finsteren Gänge hindurchgewunden hatte, traute ich meinen Augen kaum, als ich Herrn Alir lang ausgestreckt auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/404>, abgerufen am 23.07.2024.