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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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los über Dinge aussprechen, die ich bis dahin noch nie erwähnt habe;
ich muß dies selbst auf die Gefahr hin thun, daß Sie meine Worte
für Prahlerei oder Ruhmredigkeit halten.

"Seit meiner frühesten Kindheit war mein Gemüth von dem
Anblick der Armuth und des Elendes immer schmerzlich bewegt, war
die Armen und Nothleidenden zu unterstützen eine meiner höchsten
Freuden. Schon als Knabe legte ich von meinem kleinen Taschen¬
gelde immer einige Groschen zurück, um sie heimlich einem alten
Bettler zu bringen, dem ich öfter vor unserer Hausthüre begegnete.
Als ich größer ward, ließ ich mir durch das Hausgesinde Hilfsbe¬
dürftige und arme Kranke nennen, denen ich dann Erquickungen und
Geld sandte. Ich unterstützte mit einem kleinen Monatsgelde arme
Familien, ließ Kinder unterrichten, bezahlte die Kosten der Einsegnung
für sie u. s. w. Endlich wurde ich durch Boz'S treffliche und rüh¬
rende Schriften auf das Elend im Ganzen und Großen und auf
das Laster und die Sündlichkeit aufmerksam, die es nothwendig er¬
zeugt, besonders auf das weibliche Geschlecht, das zur Zartheit und
zur stillen häuslichen Tugend geboren, durch die Armuth in so grau¬
senhafte, zügellose Rohheit versinkt. Jedes dieser unglücklichen Mad¬
chen, dem ich auf der Straße begegnete, fing mich nun zu interessiren
an, ich sah in ihr das Zeichen einer weit verbreiteten Demoralisation,
ein tragisches Opfer des Hungers und der Noth, und wenn sie mir
gar bei näherer Bekanntschaft die Geschichte ihrer Leiden erzählten,
so war es meine höchste Wonne, ihr hingeben zu können, was ich
bei mir hatte. Ich sprach endlich mit einem frommen Prediger, der
öfter unser Haus besuchte, darüber; der gottesfürchtige Mann sah
mich ernst an, zuckte dann mit den Achseln und sagte mir, daß all
dies sündliche Wesen aus der Irreligiosität und Glaubenslosigkeit ent¬
stehe, die besonders in den untersten Classen ihren Sitz aufgeschlagen
habe. Wenn die Leute vom rechten Glauben erfüllt wären, so wür¬
den sie selig in dem Gedanken sein, daß der Herr ihnen die sündli¬
chen, verführerischen Güter dieser Welt nicht gegeben; so würden sie
in Demuth und frommer, heroischer Ergebung gern Alles entbehren,
was der gerechte und liebevolle Vater ihnen nun einmal versagt hat;
so würden sie nicht mehr Mittel und Wege suchen, auch an den Ge¬
nüssen dieser Welt verbrecherischen Antheil zu haben, und um die


los über Dinge aussprechen, die ich bis dahin noch nie erwähnt habe;
ich muß dies selbst auf die Gefahr hin thun, daß Sie meine Worte
für Prahlerei oder Ruhmredigkeit halten.

„Seit meiner frühesten Kindheit war mein Gemüth von dem
Anblick der Armuth und des Elendes immer schmerzlich bewegt, war
die Armen und Nothleidenden zu unterstützen eine meiner höchsten
Freuden. Schon als Knabe legte ich von meinem kleinen Taschen¬
gelde immer einige Groschen zurück, um sie heimlich einem alten
Bettler zu bringen, dem ich öfter vor unserer Hausthüre begegnete.
Als ich größer ward, ließ ich mir durch das Hausgesinde Hilfsbe¬
dürftige und arme Kranke nennen, denen ich dann Erquickungen und
Geld sandte. Ich unterstützte mit einem kleinen Monatsgelde arme
Familien, ließ Kinder unterrichten, bezahlte die Kosten der Einsegnung
für sie u. s. w. Endlich wurde ich durch Boz'S treffliche und rüh¬
rende Schriften auf das Elend im Ganzen und Großen und auf
das Laster und die Sündlichkeit aufmerksam, die es nothwendig er¬
zeugt, besonders auf das weibliche Geschlecht, das zur Zartheit und
zur stillen häuslichen Tugend geboren, durch die Armuth in so grau¬
senhafte, zügellose Rohheit versinkt. Jedes dieser unglücklichen Mad¬
chen, dem ich auf der Straße begegnete, fing mich nun zu interessiren
an, ich sah in ihr das Zeichen einer weit verbreiteten Demoralisation,
ein tragisches Opfer des Hungers und der Noth, und wenn sie mir
gar bei näherer Bekanntschaft die Geschichte ihrer Leiden erzählten,
so war es meine höchste Wonne, ihr hingeben zu können, was ich
bei mir hatte. Ich sprach endlich mit einem frommen Prediger, der
öfter unser Haus besuchte, darüber; der gottesfürchtige Mann sah
mich ernst an, zuckte dann mit den Achseln und sagte mir, daß all
dies sündliche Wesen aus der Irreligiosität und Glaubenslosigkeit ent¬
stehe, die besonders in den untersten Classen ihren Sitz aufgeschlagen
habe. Wenn die Leute vom rechten Glauben erfüllt wären, so wür¬
den sie selig in dem Gedanken sein, daß der Herr ihnen die sündli¬
chen, verführerischen Güter dieser Welt nicht gegeben; so würden sie
in Demuth und frommer, heroischer Ergebung gern Alles entbehren,
was der gerechte und liebevolle Vater ihnen nun einmal versagt hat;
so würden sie nicht mehr Mittel und Wege suchen, auch an den Ge¬
nüssen dieser Welt verbrecherischen Antheil zu haben, und um die


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[0357] los über Dinge aussprechen, die ich bis dahin noch nie erwähnt habe; ich muß dies selbst auf die Gefahr hin thun, daß Sie meine Worte für Prahlerei oder Ruhmredigkeit halten. „Seit meiner frühesten Kindheit war mein Gemüth von dem Anblick der Armuth und des Elendes immer schmerzlich bewegt, war die Armen und Nothleidenden zu unterstützen eine meiner höchsten Freuden. Schon als Knabe legte ich von meinem kleinen Taschen¬ gelde immer einige Groschen zurück, um sie heimlich einem alten Bettler zu bringen, dem ich öfter vor unserer Hausthüre begegnete. Als ich größer ward, ließ ich mir durch das Hausgesinde Hilfsbe¬ dürftige und arme Kranke nennen, denen ich dann Erquickungen und Geld sandte. Ich unterstützte mit einem kleinen Monatsgelde arme Familien, ließ Kinder unterrichten, bezahlte die Kosten der Einsegnung für sie u. s. w. Endlich wurde ich durch Boz'S treffliche und rüh¬ rende Schriften auf das Elend im Ganzen und Großen und auf das Laster und die Sündlichkeit aufmerksam, die es nothwendig er¬ zeugt, besonders auf das weibliche Geschlecht, das zur Zartheit und zur stillen häuslichen Tugend geboren, durch die Armuth in so grau¬ senhafte, zügellose Rohheit versinkt. Jedes dieser unglücklichen Mad¬ chen, dem ich auf der Straße begegnete, fing mich nun zu interessiren an, ich sah in ihr das Zeichen einer weit verbreiteten Demoralisation, ein tragisches Opfer des Hungers und der Noth, und wenn sie mir gar bei näherer Bekanntschaft die Geschichte ihrer Leiden erzählten, so war es meine höchste Wonne, ihr hingeben zu können, was ich bei mir hatte. Ich sprach endlich mit einem frommen Prediger, der öfter unser Haus besuchte, darüber; der gottesfürchtige Mann sah mich ernst an, zuckte dann mit den Achseln und sagte mir, daß all dies sündliche Wesen aus der Irreligiosität und Glaubenslosigkeit ent¬ stehe, die besonders in den untersten Classen ihren Sitz aufgeschlagen habe. Wenn die Leute vom rechten Glauben erfüllt wären, so wür¬ den sie selig in dem Gedanken sein, daß der Herr ihnen die sündli¬ chen, verführerischen Güter dieser Welt nicht gegeben; so würden sie in Demuth und frommer, heroischer Ergebung gern Alles entbehren, was der gerechte und liebevolle Vater ihnen nun einmal versagt hat; so würden sie nicht mehr Mittel und Wege suchen, auch an den Ge¬ nüssen dieser Welt verbrecherischen Antheil zu haben, und um die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/357>, abgerufen am 23.07.2024.