Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band. Und eS stand vor mir ein ernster Mann, Schön wie die Gesichte der Propheten, Augen -- glühend wie ein Zauberbann, Haare -- weiß, die in den Lüsten wehten. Und er sprach zu mir, und ernst und kalt War der Worte bindende Gewalt: Was, Genosse, ist Dein traurig Thun, Daß Du umgehst, wenn die Andern rud'n? Und ich sprach zu ihm, von Angst durchgraut: Ich bin krank und kann den Schlaf nicht finden, Weil ich das gehört hab' und geschaut, Was, erkannt, sich nimmer läßt verwinden. Wach bei meines eignen Herzens Wehn, Halt' ich fernen Schmerzensschrei vernommen, Und des Weges schritt' ich hin, zu seh'n, Ob des Einzlen Hilfe könnte frommen. Was ich so mit stierem Aug' geschaut, Ist so arg, daß Bessrung nie zu hoffen: Blut und Thränen, Schmerzen, still und laut, Wunden, gräßlich tief und ewig offen. So viel seh' ich in deS Geistes Licht, Aus des Glaubens Sternennacht erwacht: Der auf Golgatha, der hat noch nicht Die Erlösung dieser Welt gebracht. Denn so lang der Menschheit Kern umnachtet, Und so lang noch tausend Herzen brechen, Und der Freie noch in Banden schmachtet, Kann der Thor nur von Erlösung sprechen. Also ich, und er darauf: Erzähle, Was Du sahst, Du irre, müde Seele. Und ich sprach: Als ich die Stadt durchraunt, Fühlt' ich plötzlich mich am Arm gefangen, Hoch und schmächtig mit entfärbten Wangen Faßte mich ein Mädchen bet der Hand. Und eS stand vor mir ein ernster Mann, Schön wie die Gesichte der Propheten, Augen — glühend wie ein Zauberbann, Haare — weiß, die in den Lüsten wehten. Und er sprach zu mir, und ernst und kalt War der Worte bindende Gewalt: Was, Genosse, ist Dein traurig Thun, Daß Du umgehst, wenn die Andern rud'n? Und ich sprach zu ihm, von Angst durchgraut: Ich bin krank und kann den Schlaf nicht finden, Weil ich das gehört hab' und geschaut, Was, erkannt, sich nimmer läßt verwinden. Wach bei meines eignen Herzens Wehn, Halt' ich fernen Schmerzensschrei vernommen, Und des Weges schritt' ich hin, zu seh'n, Ob des Einzlen Hilfe könnte frommen. Was ich so mit stierem Aug' geschaut, Ist so arg, daß Bessrung nie zu hoffen: Blut und Thränen, Schmerzen, still und laut, Wunden, gräßlich tief und ewig offen. So viel seh' ich in deS Geistes Licht, Aus des Glaubens Sternennacht erwacht: Der auf Golgatha, der hat noch nicht Die Erlösung dieser Welt gebracht. Denn so lang der Menschheit Kern umnachtet, Und so lang noch tausend Herzen brechen, Und der Freie noch in Banden schmachtet, Kann der Thor nur von Erlösung sprechen. Also ich, und er darauf: Erzähle, Was Du sahst, Du irre, müde Seele. Und ich sprach: Als ich die Stadt durchraunt, Fühlt' ich plötzlich mich am Arm gefangen, Hoch und schmächtig mit entfärbten Wangen Faßte mich ein Mädchen bet der Hand. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0326" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180885"/> <lg xml:id="POEMID_8" type="poem"> <l> Und eS stand vor mir ein ernster Mann,<lb/> Schön wie die Gesichte der Propheten,<lb/> Augen — glühend wie ein Zauberbann,<lb/> Haare — weiß, die in den Lüsten wehten.<lb/> Und er sprach zu mir, und ernst und kalt<lb/> War der Worte bindende Gewalt:<lb/> Was, Genosse, ist Dein traurig Thun,<lb/> Daß Du umgehst, wenn die Andern rud'n?</l> <l> Und ich sprach zu ihm, von Angst durchgraut:<lb/> Ich bin krank und kann den Schlaf nicht finden,<lb/> Weil ich das gehört hab' und geschaut,<lb/> Was, erkannt, sich nimmer läßt verwinden.<lb/> Wach bei meines eignen Herzens Wehn,<lb/> Halt' ich fernen Schmerzensschrei vernommen,<lb/> Und des Weges schritt' ich hin, zu seh'n,<lb/> Ob des Einzlen Hilfe könnte frommen.<lb/> Was ich so mit stierem Aug' geschaut,<lb/> Ist so arg, daß Bessrung nie zu hoffen:<lb/> Blut und Thränen, Schmerzen, still und laut,<lb/> Wunden, gräßlich tief und ewig offen.</l> <l> So viel seh' ich in deS Geistes Licht,<lb/> Aus des Glaubens Sternennacht erwacht:<lb/> Der auf Golgatha, der hat noch nicht<lb/> Die Erlösung dieser Welt gebracht.<lb/> Denn so lang der Menschheit Kern umnachtet,<lb/> Und so lang noch tausend Herzen brechen,<lb/> Und der Freie noch in Banden schmachtet,<lb/> Kann der Thor nur von Erlösung sprechen.</l> <l> Also ich, und er darauf: Erzähle,<lb/> Was Du sahst, Du irre, müde Seele.</l> <l> Und ich sprach: Als ich die Stadt durchraunt,<lb/> Fühlt' ich plötzlich mich am Arm gefangen,<lb/> Hoch und schmächtig mit entfärbten Wangen<lb/> Faßte mich ein Mädchen bet der Hand.</l> </lg><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0326]
Und eS stand vor mir ein ernster Mann,
Schön wie die Gesichte der Propheten,
Augen — glühend wie ein Zauberbann,
Haare — weiß, die in den Lüsten wehten.
Und er sprach zu mir, und ernst und kalt
War der Worte bindende Gewalt:
Was, Genosse, ist Dein traurig Thun,
Daß Du umgehst, wenn die Andern rud'n? Und ich sprach zu ihm, von Angst durchgraut:
Ich bin krank und kann den Schlaf nicht finden,
Weil ich das gehört hab' und geschaut,
Was, erkannt, sich nimmer läßt verwinden.
Wach bei meines eignen Herzens Wehn,
Halt' ich fernen Schmerzensschrei vernommen,
Und des Weges schritt' ich hin, zu seh'n,
Ob des Einzlen Hilfe könnte frommen.
Was ich so mit stierem Aug' geschaut,
Ist so arg, daß Bessrung nie zu hoffen:
Blut und Thränen, Schmerzen, still und laut,
Wunden, gräßlich tief und ewig offen. So viel seh' ich in deS Geistes Licht,
Aus des Glaubens Sternennacht erwacht:
Der auf Golgatha, der hat noch nicht
Die Erlösung dieser Welt gebracht.
Denn so lang der Menschheit Kern umnachtet,
Und so lang noch tausend Herzen brechen,
Und der Freie noch in Banden schmachtet,
Kann der Thor nur von Erlösung sprechen. Also ich, und er darauf: Erzähle,
Was Du sahst, Du irre, müde Seele. Und ich sprach: Als ich die Stadt durchraunt,
Fühlt' ich plötzlich mich am Arm gefangen,
Hoch und schmächtig mit entfärbten Wangen
Faßte mich ein Mädchen bet der Hand.
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