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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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zerbricht sich den Kopf, um ihn nicht nur todt zu schlagen, sondern
ihm auch, wie Herwegh, eine classische Grabschrift zu setzen.

-- Aus dem Großherzogthum Posen, nahe der russisch-polnischen
Grenze, schreibt man uns: Von den Chicanen, denen selbst die an¬
ständigsten Reisenden beim Passiren der Grenze ausgesetzt sind, spricht
man nicht mehr; es ist ein zu herkömmliches Uebel. Sehr oft wird
die Post bedeutend langer, als billig ist, aufgehalten, um jeden ein¬
zelnen Passagier, trotz seines guten Passes, der kleinlichsten und un¬
angenehmsten Untersuchung unterwerfen zu können. Oder es fallt
dem Inspector am Hauptzollamte von Stupce ein, am Sonntag Nie¬
mand über die Grenze zu lassen. Diese neue Art strengerer Sonn¬
tagsfeier ist völlig ungesetzlich, allein man weiß zu gut, wie unnütz
eine Klage gegen russische Beamten ist, und bei dem raschen Wechsel
derselben hofft man jedesmal auf die bessere Laune jedes neuen An¬
kömmlings unter diesen kleinen Machthabern; wenn man sich auch
regelmäßig zu tauschen pflegt. -- Größere und wahrhaft schauerliche
Sensation macht die Art, wie die nun begonnene Rekrutenaushebung
betrieben wird. Junge Ehemänner werden von ihren Weibern und
Kindern, einzige Söhne aus den Armen hochbetagter Eltern, deren
letzte Stütze sie sind, gerissen; kaum daß man ihnen einen Augenblick
zum Lebewohl auf Nimmerwiedersehen läßt. Indessen haben die Be¬
hörden in Kalisch ein originelles Trost- und Ermuthigungsmiltel er¬
funden, um den Eonscribirten keine Zeit zum Nachdenken zu lassen.
Im Kasernenhof, wo sie eingebracht werden, stellt man ein ganzes
Musikchor mit Trommeln und Pfeifen und singlustigen Russen auf,
die einen höllischen Spektakel machen müssen; und doch ist dieser me¬
lodische Lärm oft nicht stark genug, um das Stöhnen und Jammern
der armen Leute zu übertäuben. Rücksichtsloser verfährt man natür¬
lich mit den Juden. Um Ihnen davon einen Begriff zu geben, will
ich nur den jüngsten Fall erzählen. Der Sohn eines anständigen,
obschon nicht wohlhabenden jüdischen Mannes hielt sich, wie es hieß,
in Kalisch verborgen, um eine Galgenfrist vor seiner Absenkung nach
Kiew zu gewinnen. Das an sich genug harte Gesetz macht, bei sol¬
chen Vorfällen, die Gemeinde für den Flüchtling verantwortlich. Man
schlug jedoch diesmal willkürlich den kürzeren Weg ein und hielt sich
an den Vater, der ohne Weiteres ergrissen und unter den üblichen
Mißhandlungen in's Gefängniß geworfen wurde. Er erlangte indeß
theils durch Verwendung, theils durch Geldopfer feine Freiheit wieder.
Nun aber wurde ihm von der Polizei eine verschärfte Execution in's
Haus geschickt; er sollte für jede Stunde ungefähr einen preußischen
Thaler zahlen, bis er seinen Sohn herbeigeschafft haben würde. Da
der Vater wirklich nicht um den Aufenthalt des Sohnes wußte, fo
konnte er in einigen Tagen an den Bettelstab gebracht sein. Glückli-


zerbricht sich den Kopf, um ihn nicht nur todt zu schlagen, sondern
ihm auch, wie Herwegh, eine classische Grabschrift zu setzen.

— Aus dem Großherzogthum Posen, nahe der russisch-polnischen
Grenze, schreibt man uns: Von den Chicanen, denen selbst die an¬
ständigsten Reisenden beim Passiren der Grenze ausgesetzt sind, spricht
man nicht mehr; es ist ein zu herkömmliches Uebel. Sehr oft wird
die Post bedeutend langer, als billig ist, aufgehalten, um jeden ein¬
zelnen Passagier, trotz seines guten Passes, der kleinlichsten und un¬
angenehmsten Untersuchung unterwerfen zu können. Oder es fallt
dem Inspector am Hauptzollamte von Stupce ein, am Sonntag Nie¬
mand über die Grenze zu lassen. Diese neue Art strengerer Sonn¬
tagsfeier ist völlig ungesetzlich, allein man weiß zu gut, wie unnütz
eine Klage gegen russische Beamten ist, und bei dem raschen Wechsel
derselben hofft man jedesmal auf die bessere Laune jedes neuen An¬
kömmlings unter diesen kleinen Machthabern; wenn man sich auch
regelmäßig zu tauschen pflegt. — Größere und wahrhaft schauerliche
Sensation macht die Art, wie die nun begonnene Rekrutenaushebung
betrieben wird. Junge Ehemänner werden von ihren Weibern und
Kindern, einzige Söhne aus den Armen hochbetagter Eltern, deren
letzte Stütze sie sind, gerissen; kaum daß man ihnen einen Augenblick
zum Lebewohl auf Nimmerwiedersehen läßt. Indessen haben die Be¬
hörden in Kalisch ein originelles Trost- und Ermuthigungsmiltel er¬
funden, um den Eonscribirten keine Zeit zum Nachdenken zu lassen.
Im Kasernenhof, wo sie eingebracht werden, stellt man ein ganzes
Musikchor mit Trommeln und Pfeifen und singlustigen Russen auf,
die einen höllischen Spektakel machen müssen; und doch ist dieser me¬
lodische Lärm oft nicht stark genug, um das Stöhnen und Jammern
der armen Leute zu übertäuben. Rücksichtsloser verfährt man natür¬
lich mit den Juden. Um Ihnen davon einen Begriff zu geben, will
ich nur den jüngsten Fall erzählen. Der Sohn eines anständigen,
obschon nicht wohlhabenden jüdischen Mannes hielt sich, wie es hieß,
in Kalisch verborgen, um eine Galgenfrist vor seiner Absenkung nach
Kiew zu gewinnen. Das an sich genug harte Gesetz macht, bei sol¬
chen Vorfällen, die Gemeinde für den Flüchtling verantwortlich. Man
schlug jedoch diesmal willkürlich den kürzeren Weg ein und hielt sich
an den Vater, der ohne Weiteres ergrissen und unter den üblichen
Mißhandlungen in's Gefängniß geworfen wurde. Er erlangte indeß
theils durch Verwendung, theils durch Geldopfer feine Freiheit wieder.
Nun aber wurde ihm von der Polizei eine verschärfte Execution in's
Haus geschickt; er sollte für jede Stunde ungefähr einen preußischen
Thaler zahlen, bis er seinen Sohn herbeigeschafft haben würde. Da
der Vater wirklich nicht um den Aufenthalt des Sohnes wußte, fo
konnte er in einigen Tagen an den Bettelstab gebracht sein. Glückli-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/151>, abgerufen am 03.07.2024.