Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Ge¬ Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin W"
Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Ge¬ Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin W»
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0751" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180464"/> <p xml:id="ID_1951"> Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Ge¬<lb/> genstand und Ton. Noch weiter entführte uns von jener früheren<lb/> Bahn eine Überraschung, die an das Komische grenzte, denn uner¬<lb/> wartet stürzte, aber buchstäblich stürzte Gentz in das Zimmer, und<lb/> ohne auf uns beide Fremde die geringste Rücksicht zu nehmen, warf<lb/> er sich auf das Sopha und rief wie außer sich: Ich kann nicht<lb/> mehr! Welche Müdigkeit! welche Qual! Die ganze Nacht geschrieben,<lb/> gesorgt; seit fünf Uhr verdammte Gläubiger; wo ich hinkomme,<lb/> treten sie mir entgegen; sie Hetzen mich todt, nirgends Nuhe noch<lb/> Rast. Lassen Sie mich eine halbe Stunde in Sicherheit hier<lb/> schlafen! Der große Redner von gestern, der gewaltige Schriftstel¬<lb/> ler und Staatsgelehrte erschien in bedauernswürdigen Zustande. Aber<lb/> schon lag er und hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlos¬<lb/> sen; der süßen Ruhe, die er begehrte, schien er in seinem Innern<lb/> vollkommen fähig, sobald sie nur von außen nicht gestört wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1952"> Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht<lb/> wehrte, gönnte dem Armen den schon in Besitz genommenen Raum<lb/> und führte uns zu den unteren Zimmern hinab. Sie ließ uns hier<lb/> mit ihrem Bruder, der inzwischen sichtbar geworden war, und der<lb/> mir aus dem reichen Vorrathe seiner Gedichte Vieles mittheilte, was<lb/> sich meist auf die Gesellschaft bezog, und wobei die Anmerkungen<lb/> und Erklärungen mir oft anziehender und wichtiger waren, als die<lb/> Gedichte selbst.</p><lb/> <p xml:id="ID_1953"> Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal<lb/> vertrauter und herzlicher. Als ich leider allzubald Berlin verlassen<lb/> mußte, glaubte ich zugleich dasjenige Wesen zu verlassen, dessen Glei¬<lb/> chen mir in der Welt wohl am wenigsten ein zweites Mal vorkom¬<lb/> men dürfte! Und dieser Glaube ist nicht widerlegt worden. -</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_1954" next="#ID_1955"> Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin<lb/> und beeiferte mich, jenen Umgang wieder anzuknüpfen. Ich fand<lb/> dieselbe gütige Aufnahme und größtentheils noch denselben Gesell¬<lb/> schaftskreis. Doch fehlten Friedrich Schlegel und Gentz; Ersterer<lb/> war nach Paris, Letzterer nach Wien gegangen, jeder in sei» Ele¬<lb/> ment. Prinz Louis war nur leidenschaftlicher und zerstreuter : ich</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"> W»</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0751]
Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Ge¬
genstand und Ton. Noch weiter entführte uns von jener früheren
Bahn eine Überraschung, die an das Komische grenzte, denn uner¬
wartet stürzte, aber buchstäblich stürzte Gentz in das Zimmer, und
ohne auf uns beide Fremde die geringste Rücksicht zu nehmen, warf
er sich auf das Sopha und rief wie außer sich: Ich kann nicht
mehr! Welche Müdigkeit! welche Qual! Die ganze Nacht geschrieben,
gesorgt; seit fünf Uhr verdammte Gläubiger; wo ich hinkomme,
treten sie mir entgegen; sie Hetzen mich todt, nirgends Nuhe noch
Rast. Lassen Sie mich eine halbe Stunde in Sicherheit hier
schlafen! Der große Redner von gestern, der gewaltige Schriftstel¬
ler und Staatsgelehrte erschien in bedauernswürdigen Zustande. Aber
schon lag er und hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlos¬
sen; der süßen Ruhe, die er begehrte, schien er in seinem Innern
vollkommen fähig, sobald sie nur von außen nicht gestört wurde.
Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht
wehrte, gönnte dem Armen den schon in Besitz genommenen Raum
und führte uns zu den unteren Zimmern hinab. Sie ließ uns hier
mit ihrem Bruder, der inzwischen sichtbar geworden war, und der
mir aus dem reichen Vorrathe seiner Gedichte Vieles mittheilte, was
sich meist auf die Gesellschaft bezog, und wobei die Anmerkungen
und Erklärungen mir oft anziehender und wichtiger waren, als die
Gedichte selbst.
Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal
vertrauter und herzlicher. Als ich leider allzubald Berlin verlassen
mußte, glaubte ich zugleich dasjenige Wesen zu verlassen, dessen Glei¬
chen mir in der Welt wohl am wenigsten ein zweites Mal vorkom¬
men dürfte! Und dieser Glaube ist nicht widerlegt worden. -
Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin
und beeiferte mich, jenen Umgang wieder anzuknüpfen. Ich fand
dieselbe gütige Aufnahme und größtentheils noch denselben Gesell¬
schaftskreis. Doch fehlten Friedrich Schlegel und Gentz; Ersterer
war nach Paris, Letzterer nach Wien gegangen, jeder in sei» Ele¬
ment. Prinz Louis war nur leidenschaftlicher und zerstreuter : ich
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