Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

eben erst in Oesterreich die elegischen Sehnsuchtsrufe nach den Herr¬
lichkeiten der deutschen Burschen- und Landsmannschaftlichkeit. (Sieh?
"Schattenrisse aus Oesterreich." Leipzig, bei Reclam.) So weit
sind die einzelnen Glieder der deutschen Fortschrittsarmee auseinander.
Die Avantgarde ist in den Morast gerathen, die Arrieregarde ruft aus der
blauen Ferne: Ach, wären wir doch auch in dieser schönen Gegend!

-- Dem mit vielem Takt redigirten Modeblatt "die Jahreszei¬
ten", welches namentlich durch ein pikantes und reichhaltiges Feuille¬
ton vor anderen Blättern ähnlicher Art sich auszeichnet, müssen wir den
wohlgemeinten Rath geben, seinen Wiener Correspondenten etwas mehr
auf die Finger zu sehen. Der Bericht über Ponsard's Lucrccia am
Burgtheater enthält eine abscheuliche Zote, die allerdings die Redaction
nicht verstehen konnte, da sie einen Wiener Localklatsch betrifft, eine
Theatcrliebschaft und ihre Folgen. Wohl aber ist es die unverzeih¬
lichste Impertinenz, wenn ein solcher Eorrespondenzler das Zutrauen,
das eine Redaction in ihn setzt, auf eine solche Weise mißbraucht und
seine Kukukseier ihr unterschiebt. Das achtbarste Blatt kann durch
eine solche Perfidie in schlechten Ruf gerathen, wenn es nicht gewarnt
wird. --

Im Kanton Wallis ist ein ernstlicher Bürgerkrieg ausgebro¬
chen. Die ganze Schweiz aber leidet an krampfhaften Zuckungen, die
um so abstoßender sind, als die Brutalität der dortigen Bewegungen
mit den Endzielen und der politischen Bedeutung derselben in keinem
Verhältnisse steht. Die Schweiz ist eine Bühne, auf der, gleichsam
zum warnenden Exempel, alle entgegengesetztesten Elemente der euro¬
päischen Civilisation ihre Orgien feiern; bürgermeisterliche Tyrannei
und Spießbürgerlichkeit, Pöbelherrschaft und starrer Patrizierhochmuty,
puritanische Bigotterie und Jesuitenherrschaft, Preßfreiheit und Glau¬
bensprozesse, Alles durcheinander. In Zürich ist jetzt der bekannte öl.
Bluntschli zum Rector derselben Universität erwählt worden, die einst
dem Strauß einen Lehrstuhl antrug. Ob dieses Ereigniß auch
eine Revolution zur Folge haben wird? "Die Wahl des Mannes, der
nun schon Jahre lang mit den Mannern der Wissenschaft im offenen
Kampfe lag, die Senatssitzungen nie mehr besuchte, die Lehrfreiheit
mit Knitteln austreiben hilft und sich nachher durch Preßprozesse und
Beschlagnahmen einen Ruf erwarb" -- ist dem Schasshausener "Vor¬
läufer" ein Beweis von dem innigen Zusammenhang zwischen Ultra¬
montanen und sich so nennenden Conservativen.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. -- Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrö.

eben erst in Oesterreich die elegischen Sehnsuchtsrufe nach den Herr¬
lichkeiten der deutschen Burschen- und Landsmannschaftlichkeit. (Sieh?
„Schattenrisse aus Oesterreich." Leipzig, bei Reclam.) So weit
sind die einzelnen Glieder der deutschen Fortschrittsarmee auseinander.
Die Avantgarde ist in den Morast gerathen, die Arrieregarde ruft aus der
blauen Ferne: Ach, wären wir doch auch in dieser schönen Gegend!

— Dem mit vielem Takt redigirten Modeblatt „die Jahreszei¬
ten", welches namentlich durch ein pikantes und reichhaltiges Feuille¬
ton vor anderen Blättern ähnlicher Art sich auszeichnet, müssen wir den
wohlgemeinten Rath geben, seinen Wiener Correspondenten etwas mehr
auf die Finger zu sehen. Der Bericht über Ponsard's Lucrccia am
Burgtheater enthält eine abscheuliche Zote, die allerdings die Redaction
nicht verstehen konnte, da sie einen Wiener Localklatsch betrifft, eine
Theatcrliebschaft und ihre Folgen. Wohl aber ist es die unverzeih¬
lichste Impertinenz, wenn ein solcher Eorrespondenzler das Zutrauen,
das eine Redaction in ihn setzt, auf eine solche Weise mißbraucht und
seine Kukukseier ihr unterschiebt. Das achtbarste Blatt kann durch
eine solche Perfidie in schlechten Ruf gerathen, wenn es nicht gewarnt
wird. —

Im Kanton Wallis ist ein ernstlicher Bürgerkrieg ausgebro¬
chen. Die ganze Schweiz aber leidet an krampfhaften Zuckungen, die
um so abstoßender sind, als die Brutalität der dortigen Bewegungen
mit den Endzielen und der politischen Bedeutung derselben in keinem
Verhältnisse steht. Die Schweiz ist eine Bühne, auf der, gleichsam
zum warnenden Exempel, alle entgegengesetztesten Elemente der euro¬
päischen Civilisation ihre Orgien feiern; bürgermeisterliche Tyrannei
und Spießbürgerlichkeit, Pöbelherrschaft und starrer Patrizierhochmuty,
puritanische Bigotterie und Jesuitenherrschaft, Preßfreiheit und Glau¬
bensprozesse, Alles durcheinander. In Zürich ist jetzt der bekannte öl.
Bluntschli zum Rector derselben Universität erwählt worden, die einst
dem Strauß einen Lehrstuhl antrug. Ob dieses Ereigniß auch
eine Revolution zur Folge haben wird? „Die Wahl des Mannes, der
nun schon Jahre lang mit den Mannern der Wissenschaft im offenen
Kampfe lag, die Senatssitzungen nie mehr besuchte, die Lehrfreiheit
mit Knitteln austreiben hilft und sich nachher durch Preßprozesse und
Beschlagnahmen einen Ruf erwarb" — ist dem Schasshausener „Vor¬
läufer" ein Beweis von dem innigen Zusammenhang zwischen Ultra¬
montanen und sich so nennenden Conservativen.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrö.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0740" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180453"/>
            <p xml:id="ID_1914" prev="#ID_1913"> eben erst in Oesterreich die elegischen Sehnsuchtsrufe nach den Herr¬<lb/>
lichkeiten der deutschen Burschen- und Landsmannschaftlichkeit. (Sieh?<lb/>
&#x201E;Schattenrisse aus Oesterreich." Leipzig, bei Reclam.) So weit<lb/>
sind die einzelnen Glieder der deutschen Fortschrittsarmee auseinander.<lb/>
Die Avantgarde ist in den Morast gerathen, die Arrieregarde ruft aus der<lb/>
blauen Ferne:  Ach, wären wir doch auch in dieser schönen Gegend!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1915"> &#x2014; Dem mit vielem Takt redigirten Modeblatt &#x201E;die Jahreszei¬<lb/>
ten", welches namentlich durch ein pikantes und reichhaltiges Feuille¬<lb/>
ton vor anderen Blättern ähnlicher Art sich auszeichnet, müssen wir den<lb/>
wohlgemeinten Rath geben, seinen Wiener Correspondenten etwas mehr<lb/>
auf die Finger zu sehen. Der Bericht über Ponsard's Lucrccia am<lb/>
Burgtheater enthält eine abscheuliche Zote, die allerdings die Redaction<lb/>
nicht verstehen konnte, da sie einen Wiener Localklatsch betrifft, eine<lb/>
Theatcrliebschaft und ihre Folgen. Wohl aber ist es die unverzeih¬<lb/>
lichste Impertinenz, wenn ein solcher Eorrespondenzler das Zutrauen,<lb/>
das eine Redaction in ihn setzt, auf eine solche Weise mißbraucht und<lb/>
seine Kukukseier ihr unterschiebt. Das achtbarste Blatt kann durch<lb/>
eine solche Perfidie in schlechten Ruf gerathen, wenn es nicht gewarnt<lb/>
wird. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1916"> Im Kanton Wallis ist ein ernstlicher Bürgerkrieg ausgebro¬<lb/>
chen. Die ganze Schweiz aber leidet an krampfhaften Zuckungen, die<lb/>
um so abstoßender sind, als die Brutalität der dortigen Bewegungen<lb/>
mit den Endzielen und der politischen Bedeutung derselben in keinem<lb/>
Verhältnisse steht. Die Schweiz ist eine Bühne, auf der, gleichsam<lb/>
zum warnenden Exempel, alle entgegengesetztesten Elemente der euro¬<lb/>
päischen Civilisation ihre Orgien feiern; bürgermeisterliche Tyrannei<lb/>
und Spießbürgerlichkeit, Pöbelherrschaft und starrer Patrizierhochmuty,<lb/>
puritanische Bigotterie und Jesuitenherrschaft, Preßfreiheit und Glau¬<lb/>
bensprozesse, Alles durcheinander. In Zürich ist jetzt der bekannte öl.<lb/>
Bluntschli zum Rector derselben Universität erwählt worden, die einst<lb/>
dem Strauß einen Lehrstuhl antrug. Ob dieses Ereigniß auch<lb/>
eine Revolution zur Folge haben wird? &#x201E;Die Wahl des Mannes, der<lb/>
nun schon Jahre lang mit den Mannern der Wissenschaft im offenen<lb/>
Kampfe lag, die Senatssitzungen nie mehr besuchte, die Lehrfreiheit<lb/>
mit Knitteln austreiben hilft und sich nachher durch Preßprozesse und<lb/>
Beschlagnahmen einen Ruf erwarb" &#x2014; ist dem Schasshausener &#x201E;Vor¬<lb/>
läufer" ein Beweis von dem innigen Zusammenhang zwischen Ultra¬<lb/>
montanen und sich so nennenden Conservativen.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <note type="byline"> Verlag von Fr. Ludw. Herbig. &#x2014; Redacteur I. Kuranda.<lb/>
Druck von Friedrich Andrö.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0740] eben erst in Oesterreich die elegischen Sehnsuchtsrufe nach den Herr¬ lichkeiten der deutschen Burschen- und Landsmannschaftlichkeit. (Sieh? „Schattenrisse aus Oesterreich." Leipzig, bei Reclam.) So weit sind die einzelnen Glieder der deutschen Fortschrittsarmee auseinander. Die Avantgarde ist in den Morast gerathen, die Arrieregarde ruft aus der blauen Ferne: Ach, wären wir doch auch in dieser schönen Gegend! — Dem mit vielem Takt redigirten Modeblatt „die Jahreszei¬ ten", welches namentlich durch ein pikantes und reichhaltiges Feuille¬ ton vor anderen Blättern ähnlicher Art sich auszeichnet, müssen wir den wohlgemeinten Rath geben, seinen Wiener Correspondenten etwas mehr auf die Finger zu sehen. Der Bericht über Ponsard's Lucrccia am Burgtheater enthält eine abscheuliche Zote, die allerdings die Redaction nicht verstehen konnte, da sie einen Wiener Localklatsch betrifft, eine Theatcrliebschaft und ihre Folgen. Wohl aber ist es die unverzeih¬ lichste Impertinenz, wenn ein solcher Eorrespondenzler das Zutrauen, das eine Redaction in ihn setzt, auf eine solche Weise mißbraucht und seine Kukukseier ihr unterschiebt. Das achtbarste Blatt kann durch eine solche Perfidie in schlechten Ruf gerathen, wenn es nicht gewarnt wird. — Im Kanton Wallis ist ein ernstlicher Bürgerkrieg ausgebro¬ chen. Die ganze Schweiz aber leidet an krampfhaften Zuckungen, die um so abstoßender sind, als die Brutalität der dortigen Bewegungen mit den Endzielen und der politischen Bedeutung derselben in keinem Verhältnisse steht. Die Schweiz ist eine Bühne, auf der, gleichsam zum warnenden Exempel, alle entgegengesetztesten Elemente der euro¬ päischen Civilisation ihre Orgien feiern; bürgermeisterliche Tyrannei und Spießbürgerlichkeit, Pöbelherrschaft und starrer Patrizierhochmuty, puritanische Bigotterie und Jesuitenherrschaft, Preßfreiheit und Glau¬ bensprozesse, Alles durcheinander. In Zürich ist jetzt der bekannte öl. Bluntschli zum Rector derselben Universität erwählt worden, die einst dem Strauß einen Lehrstuhl antrug. Ob dieses Ereigniß auch eine Revolution zur Folge haben wird? „Die Wahl des Mannes, der nun schon Jahre lang mit den Mannern der Wissenschaft im offenen Kampfe lag, die Senatssitzungen nie mehr besuchte, die Lehrfreiheit mit Knitteln austreiben hilft und sich nachher durch Preßprozesse und Beschlagnahmen einen Ruf erwarb" — ist dem Schasshausener „Vor¬ läufer" ein Beweis von dem innigen Zusammenhang zwischen Ultra¬ montanen und sich so nennenden Conservativen. Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda. Druck von Friedrich Andrö.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/740
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/740>, abgerufen am 01.07.2024.