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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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lich und bestimmt er jedes besondere Geschäft behandelte, das unter
seiner Leitung stand, so war es eben nicht leicht, seine Rathschläge
im Ganzen aufzufassen und richtig anzuwenden. Er war ein abge¬
sagter Feind der unnöthigen Rede, belehrte nicht in weitläufiger Aus¬
einandersetzung und hielt nicht Einwendungen Stand; er sprach in
Epigrammen und überließ dem Zuhörer die Deutung und Anwen¬
dung ohne besonderen Eifer dafür, ob seine Rathschläge befolgt wür¬
den oder nicht; aus Indolenz, und wenn man will, aus Egoismus,
denn er behielt sich immer vor, wenn er Andere nicht retten konnte,
nicht mit ihnen zu Grunde zu gehen, sondern sich selbst zu retten.
Ludwig Philipp verstand vollkommen Talleyrand's scharfsinnige Phe-
nomenolvgie, wußte, was von seinen Wahrnehmungen zu brauchen
war, was nicht. Der König hatte 1830 sogleich erkannt, daß Tal-
leyrand der wahre Dollmetscher seiner eigentlichen Absichten bei der
europäischen Diplomatie sein werde, daß er sich ganz auf seine Vor¬
sicht und Feinheit verlassen könne. Des Fürsten Sendung nach Lon¬
don galt nicht blos dem Cabinet von Se. James, sondern der gan¬
zen europäischen Diplomatie, die auch zum öftersten in London das
rechte Verständniß bekam von dem, was die Depeschen des Mini¬
steriums in Paris anders ausdrücken mußten. Hier leistete er die
wichtigsten Dienste, und er blieb auch bis zuletzt der wichtigste Mann
in dem vertrauten politischen Rathe des Königs, zu dem Sebastiani,
Pasquier, Molch Decazes gehörten. Daher auch verdienterweise das
große Ansehen Talleyrand's in der königlichen Familie. Sein Besuch
war in den Tuilerien stets willkommen, und er kam auch dann, als
sein hohes Alter ihm nicht gestattete, die Treppe hinaufzugehen, und
er in einem Sessel hinaufgetragen werden mußte. Der König hatte
sich ihm dankbar erwiesen; man versicherte, daß er sein Gehalt als
Oberstkammerherr unter der Restauration von 100,000 Franken von
der Civilliste fortbezog; an Ehren und Würden hatte er schon längst
Alles erreicht, was einem Privatmanne ertheilt werden konnte. Lud¬
wig Philipp fügte noch die Ehre seines persönlichen Besuches bei
dem sterbenden Diplomaten hinzu. Als der König an Talleyrand's
Sterbebett trat, hatte der Fürst schon die Sprache verloren, die er so
sehr in seiner Macht gehabt und nie mißbraucht hatte. Bei dem feier¬
lichen Leichenbegängnisse erschien die Livree des Königs und eine
Reihe von königlichen Hofwagen. Viele glaubten, daß die Idee,


lich und bestimmt er jedes besondere Geschäft behandelte, das unter
seiner Leitung stand, so war es eben nicht leicht, seine Rathschläge
im Ganzen aufzufassen und richtig anzuwenden. Er war ein abge¬
sagter Feind der unnöthigen Rede, belehrte nicht in weitläufiger Aus¬
einandersetzung und hielt nicht Einwendungen Stand; er sprach in
Epigrammen und überließ dem Zuhörer die Deutung und Anwen¬
dung ohne besonderen Eifer dafür, ob seine Rathschläge befolgt wür¬
den oder nicht; aus Indolenz, und wenn man will, aus Egoismus,
denn er behielt sich immer vor, wenn er Andere nicht retten konnte,
nicht mit ihnen zu Grunde zu gehen, sondern sich selbst zu retten.
Ludwig Philipp verstand vollkommen Talleyrand's scharfsinnige Phe-
nomenolvgie, wußte, was von seinen Wahrnehmungen zu brauchen
war, was nicht. Der König hatte 1830 sogleich erkannt, daß Tal-
leyrand der wahre Dollmetscher seiner eigentlichen Absichten bei der
europäischen Diplomatie sein werde, daß er sich ganz auf seine Vor¬
sicht und Feinheit verlassen könne. Des Fürsten Sendung nach Lon¬
don galt nicht blos dem Cabinet von Se. James, sondern der gan¬
zen europäischen Diplomatie, die auch zum öftersten in London das
rechte Verständniß bekam von dem, was die Depeschen des Mini¬
steriums in Paris anders ausdrücken mußten. Hier leistete er die
wichtigsten Dienste, und er blieb auch bis zuletzt der wichtigste Mann
in dem vertrauten politischen Rathe des Königs, zu dem Sebastiani,
Pasquier, Molch Decazes gehörten. Daher auch verdienterweise das
große Ansehen Talleyrand's in der königlichen Familie. Sein Besuch
war in den Tuilerien stets willkommen, und er kam auch dann, als
sein hohes Alter ihm nicht gestattete, die Treppe hinaufzugehen, und
er in einem Sessel hinaufgetragen werden mußte. Der König hatte
sich ihm dankbar erwiesen; man versicherte, daß er sein Gehalt als
Oberstkammerherr unter der Restauration von 100,000 Franken von
der Civilliste fortbezog; an Ehren und Würden hatte er schon längst
Alles erreicht, was einem Privatmanne ertheilt werden konnte. Lud¬
wig Philipp fügte noch die Ehre seines persönlichen Besuches bei
dem sterbenden Diplomaten hinzu. Als der König an Talleyrand's
Sterbebett trat, hatte der Fürst schon die Sprache verloren, die er so
sehr in seiner Macht gehabt und nie mißbraucht hatte. Bei dem feier¬
lichen Leichenbegängnisse erschien die Livree des Königs und eine
Reihe von königlichen Hofwagen. Viele glaubten, daß die Idee,


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[0689] lich und bestimmt er jedes besondere Geschäft behandelte, das unter seiner Leitung stand, so war es eben nicht leicht, seine Rathschläge im Ganzen aufzufassen und richtig anzuwenden. Er war ein abge¬ sagter Feind der unnöthigen Rede, belehrte nicht in weitläufiger Aus¬ einandersetzung und hielt nicht Einwendungen Stand; er sprach in Epigrammen und überließ dem Zuhörer die Deutung und Anwen¬ dung ohne besonderen Eifer dafür, ob seine Rathschläge befolgt wür¬ den oder nicht; aus Indolenz, und wenn man will, aus Egoismus, denn er behielt sich immer vor, wenn er Andere nicht retten konnte, nicht mit ihnen zu Grunde zu gehen, sondern sich selbst zu retten. Ludwig Philipp verstand vollkommen Talleyrand's scharfsinnige Phe- nomenolvgie, wußte, was von seinen Wahrnehmungen zu brauchen war, was nicht. Der König hatte 1830 sogleich erkannt, daß Tal- leyrand der wahre Dollmetscher seiner eigentlichen Absichten bei der europäischen Diplomatie sein werde, daß er sich ganz auf seine Vor¬ sicht und Feinheit verlassen könne. Des Fürsten Sendung nach Lon¬ don galt nicht blos dem Cabinet von Se. James, sondern der gan¬ zen europäischen Diplomatie, die auch zum öftersten in London das rechte Verständniß bekam von dem, was die Depeschen des Mini¬ steriums in Paris anders ausdrücken mußten. Hier leistete er die wichtigsten Dienste, und er blieb auch bis zuletzt der wichtigste Mann in dem vertrauten politischen Rathe des Königs, zu dem Sebastiani, Pasquier, Molch Decazes gehörten. Daher auch verdienterweise das große Ansehen Talleyrand's in der königlichen Familie. Sein Besuch war in den Tuilerien stets willkommen, und er kam auch dann, als sein hohes Alter ihm nicht gestattete, die Treppe hinaufzugehen, und er in einem Sessel hinaufgetragen werden mußte. Der König hatte sich ihm dankbar erwiesen; man versicherte, daß er sein Gehalt als Oberstkammerherr unter der Restauration von 100,000 Franken von der Civilliste fortbezog; an Ehren und Würden hatte er schon längst Alles erreicht, was einem Privatmanne ertheilt werden konnte. Lud¬ wig Philipp fügte noch die Ehre seines persönlichen Besuches bei dem sterbenden Diplomaten hinzu. Als der König an Talleyrand's Sterbebett trat, hatte der Fürst schon die Sprache verloren, die er so sehr in seiner Macht gehabt und nie mißbraucht hatte. Bei dem feier¬ lichen Leichenbegängnisse erschien die Livree des Königs und eine Reihe von königlichen Hofwagen. Viele glaubten, daß die Idee,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/689>, abgerufen am 23.12.2024.