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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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unter zudringlichen Fuhrleuten und Lohnträgern an dem Landungs¬
platze der kleinen Lübeckschen Hafenstadt Travemünde an der Ostsee
und bekam allerlei wunderliche Gedanken! Als ich noch auf der
See war, konnte ich mir gar nicht denken, daß ich Deutschland ganz
so wieder finden würde, wie ich es verlassen hatte; meine Phantasie
hatte mir allerlei große Veränderungen vorgezaubert. In Peters¬
burg hatte ich nur den Hamburger Korrespondenten und die preu¬
ßische Staatszeitung gesehen. Wie es aber bekanntlich vor der Re¬
volution in Frankreich eine Adelsklasse von Weniger als gar Nichts
gab, so sind eben diese Journale von Weniger als gar Nichts und
ich hätte Unrecht gethan, nach ihnen auf die deutschen Zustände zu schlie¬
ßen. Hat der deutsche Bund vielleicht die Carlsbader Beschlüsse aufgeho¬
ben? Ist Luther etwa in die Walhalla gekommen? Ist Friedrich
Förster an einem Gelegenheitsgedichte gestorben? Ist Barbarossa
aus dem Kyffhäuser heraus? Ist der Mcßkatalog bis über die
Hälfte herabgeschmolzcn? Ist die Mecklenburgische Lebensfrage von
den rothen Rocken der bürgerlichen Gutsbesitzer endlich erledigt und
hat die Literarische aufgehört zu erscheinen? -- Das und viel An¬
deres ging mir durch den Kopf, während die meisten meiner Reise¬
genossen an der Seekrankheit litten und ein russischer Fürst eine Fla¬
sche Champagner nach der andern trank, bis sein Diener ihn in die
Kajüte und in's Schlascabinet führte. Jetzt aber stand ich endlich
auf deutschem Grunde. Die derben deutschen Gesichter rings um¬
her zeigten kaum etwas Anderes, als Geldgier oder Stumpfsinn, und
anstatt daß man meine Fragen beantwortet hätte, erfuhr ich, waS ich
nicht erwartet hatte, -- ja eher wäre der Himmel eingestürzt, -- in
der freien Hansestadt Lübeck sei eine Julirevolution
gewesen ! -- Diese Nachricht wirkte so sehr erschütternd auf mich,
daß ich mich noch bei der Erinnerung an den ersten Eindruck nicht
so leicht sammeln kann. --

Vielleicht habe ich dem Kutscher ein paar Thaler über die Tare
gegeben, wenigstens schien mir der Preis für den Wagen enorm.
Aus meinem Rosselenker war Nichts herauszubringen. Als wir durch
Travemünde fuhren, blies er in's Horn. Es war mir ganz so, als
sei es die gewaltige Marseillaise. Eine Revolution und in Lübeck!


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unter zudringlichen Fuhrleuten und Lohnträgern an dem Landungs¬
platze der kleinen Lübeckschen Hafenstadt Travemünde an der Ostsee
und bekam allerlei wunderliche Gedanken! Als ich noch auf der
See war, konnte ich mir gar nicht denken, daß ich Deutschland ganz
so wieder finden würde, wie ich es verlassen hatte; meine Phantasie
hatte mir allerlei große Veränderungen vorgezaubert. In Peters¬
burg hatte ich nur den Hamburger Korrespondenten und die preu¬
ßische Staatszeitung gesehen. Wie es aber bekanntlich vor der Re¬
volution in Frankreich eine Adelsklasse von Weniger als gar Nichts
gab, so sind eben diese Journale von Weniger als gar Nichts und
ich hätte Unrecht gethan, nach ihnen auf die deutschen Zustände zu schlie¬
ßen. Hat der deutsche Bund vielleicht die Carlsbader Beschlüsse aufgeho¬
ben? Ist Luther etwa in die Walhalla gekommen? Ist Friedrich
Förster an einem Gelegenheitsgedichte gestorben? Ist Barbarossa
aus dem Kyffhäuser heraus? Ist der Mcßkatalog bis über die
Hälfte herabgeschmolzcn? Ist die Mecklenburgische Lebensfrage von
den rothen Rocken der bürgerlichen Gutsbesitzer endlich erledigt und
hat die Literarische aufgehört zu erscheinen? — Das und viel An¬
deres ging mir durch den Kopf, während die meisten meiner Reise¬
genossen an der Seekrankheit litten und ein russischer Fürst eine Fla¬
sche Champagner nach der andern trank, bis sein Diener ihn in die
Kajüte und in's Schlascabinet führte. Jetzt aber stand ich endlich
auf deutschem Grunde. Die derben deutschen Gesichter rings um¬
her zeigten kaum etwas Anderes, als Geldgier oder Stumpfsinn, und
anstatt daß man meine Fragen beantwortet hätte, erfuhr ich, waS ich
nicht erwartet hatte, — ja eher wäre der Himmel eingestürzt, — in
der freien Hansestadt Lübeck sei eine Julirevolution
gewesen ! — Diese Nachricht wirkte so sehr erschütternd auf mich,
daß ich mich noch bei der Erinnerung an den ersten Eindruck nicht
so leicht sammeln kann. —

Vielleicht habe ich dem Kutscher ein paar Thaler über die Tare
gegeben, wenigstens schien mir der Preis für den Wagen enorm.
Aus meinem Rosselenker war Nichts herauszubringen. Als wir durch
Travemünde fuhren, blies er in's Horn. Es war mir ganz so, als
sei es die gewaltige Marseillaise. Eine Revolution und in Lübeck!


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[0565] unter zudringlichen Fuhrleuten und Lohnträgern an dem Landungs¬ platze der kleinen Lübeckschen Hafenstadt Travemünde an der Ostsee und bekam allerlei wunderliche Gedanken! Als ich noch auf der See war, konnte ich mir gar nicht denken, daß ich Deutschland ganz so wieder finden würde, wie ich es verlassen hatte; meine Phantasie hatte mir allerlei große Veränderungen vorgezaubert. In Peters¬ burg hatte ich nur den Hamburger Korrespondenten und die preu¬ ßische Staatszeitung gesehen. Wie es aber bekanntlich vor der Re¬ volution in Frankreich eine Adelsklasse von Weniger als gar Nichts gab, so sind eben diese Journale von Weniger als gar Nichts und ich hätte Unrecht gethan, nach ihnen auf die deutschen Zustände zu schlie¬ ßen. Hat der deutsche Bund vielleicht die Carlsbader Beschlüsse aufgeho¬ ben? Ist Luther etwa in die Walhalla gekommen? Ist Friedrich Förster an einem Gelegenheitsgedichte gestorben? Ist Barbarossa aus dem Kyffhäuser heraus? Ist der Mcßkatalog bis über die Hälfte herabgeschmolzcn? Ist die Mecklenburgische Lebensfrage von den rothen Rocken der bürgerlichen Gutsbesitzer endlich erledigt und hat die Literarische aufgehört zu erscheinen? — Das und viel An¬ deres ging mir durch den Kopf, während die meisten meiner Reise¬ genossen an der Seekrankheit litten und ein russischer Fürst eine Fla¬ sche Champagner nach der andern trank, bis sein Diener ihn in die Kajüte und in's Schlascabinet führte. Jetzt aber stand ich endlich auf deutschem Grunde. Die derben deutschen Gesichter rings um¬ her zeigten kaum etwas Anderes, als Geldgier oder Stumpfsinn, und anstatt daß man meine Fragen beantwortet hätte, erfuhr ich, waS ich nicht erwartet hatte, — ja eher wäre der Himmel eingestürzt, — in der freien Hansestadt Lübeck sei eine Julirevolution gewesen ! — Diese Nachricht wirkte so sehr erschütternd auf mich, daß ich mich noch bei der Erinnerung an den ersten Eindruck nicht so leicht sammeln kann. — Vielleicht habe ich dem Kutscher ein paar Thaler über die Tare gegeben, wenigstens schien mir der Preis für den Wagen enorm. Aus meinem Rosselenker war Nichts herauszubringen. Als wir durch Travemünde fuhren, blies er in's Horn. Es war mir ganz so, als sei es die gewaltige Marseillaise. Eine Revolution und in Lübeck! Grcnziotcn I»i5. l. 7Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/565>, abgerufen am 29.06.2024.