Sohn, Bruder und Schwester, ja Gedanken und Gefühle eines und desselben Menschen. Im Herrenhause ist Gesellschaft, Musik und Tanz. Das jüngste Fräulein singt zum Piano ein Göthe'sches Lied, oder declamirt Schiller's Glocke; aber der czechische Gesang des blinden Bettelmannes, schwach herüberkommt aus der anstoßenden Dorfschenke, oder das Wiegenlied der alten Amme in der Gesinde- stube, schlägt tiefere Saiten in Aller Herzen an. Wie freut sich der alte Vater seines Sohnes, dex in deutscher Zunge so unbefangen mit den hohen Herrschaften redet; die Schwester empfängt ihres Bruders vornehmere Freunde mit deutscheu Grußworten, die sie er- röthend und stotternd vorbringt, und die Fremden lächeln freundlich, denn das Deutsche hat einen' seltsamen Reiz auf den widerstrebenden Lippen eines hübschen Czechenmädchens; aber Vater und Mutter segnen ihren Sohn und die Schwester betet für ihren Bruder - auf Czechisch. Eigenthümlich äußert sich das Doppelleben der Ger- manisirten. Dex Junker, dex Offizier, der Beamte, der Lehrer und der Priester, sie alle treten öffentlich in der Rüstung und im Sonn- tagsstaat deutscher Bildung auf; sie commandiren, sie lehren und verordnen deutsch; aber i^hre vertrauten Reden, ihre Gemüthlichkeit oder wenigstens ihre Zornausbrüche und Flüche sind czechisch.^ Um^ gekehrt sind der deutsche Knabe und das deutsche Mädchen, die viel leicht nur die nothdürftigsten c.zendischen Ausdrücke verstehen, fortwäh rend den seltsamsten Eindrücken ausgesetzt; sie glauben sich, unte das Volk tretend, rings von Geheimniß umgeben; ein Spaziergan in's Dorf ist ein Ab^enteuer; auf der kleinsten Fahrt brauchen si dann und wann einen Dolmetsch. Und weit weg, verklärt vo glänzender Ferne, wie in goldnen Abendwolken ruhend, das Lan ihrer Sehnsucht, die Heimath ihrer Ideale, liegt ihnen die deutsch Welt; dort tönt ja die Sprache, in dex sie beten und schwärme gelernt, die Sprache ihrer Dichter und ihrer Liebe; wo selbst der Bet ler deutsch spricht, muß Arkadien, muß Utopien sein. Alles Ed und Reine, alles Glänzende und Erhabene, alles Schöne und Lich ist ihnen deutsch; alles Dunkle und Unheimliche, alles Rohe, Dür tige, Burleske und Gemeine ist ihnen ezechisch; mit andern Worte Wirklichkeit und Gegenwart sind böhmisch, Ideal und Zukunft deuts Und wenn sie einmal plötzlich nach Dentschland kommen, werden Anorderunentelle -
gsn,dienichtzubefriedigensind. Grenzboten 1844. I. 4
Sohn, Bruder und Schwester, ja Gedanken und Gefühle eines und desselben Menschen. Im Herrenhause ist Gesellschaft, Musik und Tanz. Das jüngste Fräulein singt zum Piano ein Göthe'sches Lied, oder declamirt Schiller's Glocke; aber der czechische Gesang des blinden Bettelmannes, schwach herüberkommt aus der anstoßenden Dorfschenke, oder das Wiegenlied der alten Amme in der Gesinde- stube, schlägt tiefere Saiten in Aller Herzen an. Wie freut sich der alte Vater seines Sohnes, dex in deutscher Zunge so unbefangen mit den hohen Herrschaften redet; die Schwester empfängt ihres Bruders vornehmere Freunde mit deutscheu Grußworten, die sie er- röthend und stotternd vorbringt, und die Fremden lächeln freundlich, denn das Deutsche hat einen' seltsamen Reiz auf den widerstrebenden Lippen eines hübschen Czechenmädchens; aber Vater und Mutter segnen ihren Sohn und die Schwester betet für ihren Bruder - auf Czechisch. Eigenthümlich äußert sich das Doppelleben der Ger- manisirten. Dex Junker, dex Offizier, der Beamte, der Lehrer und der Priester, sie alle treten öffentlich in der Rüstung und im Sonn- tagsstaat deutscher Bildung auf; sie commandiren, sie lehren und verordnen deutsch; aber i^hre vertrauten Reden, ihre Gemüthlichkeit oder wenigstens ihre Zornausbrüche und Flüche sind czechisch.^ Um^ gekehrt sind der deutsche Knabe und das deutsche Mädchen, die viel leicht nur die nothdürftigsten c.zendischen Ausdrücke verstehen, fortwäh rend den seltsamsten Eindrücken ausgesetzt; sie glauben sich, unte das Volk tretend, rings von Geheimniß umgeben; ein Spaziergan in's Dorf ist ein Ab^enteuer; auf der kleinsten Fahrt brauchen si dann und wann einen Dolmetsch. Und weit weg, verklärt vo glänzender Ferne, wie in goldnen Abendwolken ruhend, das Lan ihrer Sehnsucht, die Heimath ihrer Ideale, liegt ihnen die deutsch Welt; dort tönt ja die Sprache, in dex sie beten und schwärme gelernt, die Sprache ihrer Dichter und ihrer Liebe; wo selbst der Bet ler deutsch spricht, muß Arkadien, muß Utopien sein. Alles Ed und Reine, alles Glänzende und Erhabene, alles Schöne und Lich ist ihnen deutsch; alles Dunkle und Unheimliche, alles Rohe, Dür tige, Burleske und Gemeine ist ihnen ezechisch; mit andern Worte Wirklichkeit und Gegenwart sind böhmisch, Ideal und Zukunft deuts Und wenn sie einmal plötzlich nach Dentschland kommen, werden Anorderunentelle -
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Sohn, Bruder und Schwester, ja Gedanken und Gefühle eines und
desselben Menschen. Im Herrenhause ist Gesellschaft, Musik und
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oder declamirt Schiller's Glocke; aber der czechische Gesang des
blinden Bettelmannes, schwach herüberkommt aus der anstoßenden
Dorfschenke, oder das Wiegenlied der alten Amme in der Gesinde-
stube, schlägt tiefere Saiten in Aller Herzen an. Wie freut sich der
alte Vater seines Sohnes, dex in deutscher Zunge so unbefangen
mit den hohen Herrschaften redet; die Schwester empfängt ihres
Bruders vornehmere Freunde mit deutscheu Grußworten, die sie er-
röthend und stotternd vorbringt, und die Fremden lächeln freundlich,
denn das Deutsche hat einen' seltsamen Reiz auf den widerstrebenden
Lippen eines hübschen Czechenmädchens; aber Vater und Mutter
segnen ihren Sohn und die Schwester betet für ihren Bruder -
auf Czechisch. Eigenthümlich äußert sich das Doppelleben der Ger-
manisirten. Dex Junker, dex Offizier, der Beamte, der Lehrer und
der Priester, sie alle treten öffentlich in der Rüstung und im Sonn-
tagsstaat deutscher Bildung auf; sie commandiren, sie lehren und
verordnen deutsch; aber i^hre vertrauten Reden, ihre Gemüthlichkeit
oder wenigstens ihre Zornausbrüche und Flüche sind czechisch.^ Um^
gekehrt sind der deutsche Knabe und das deutsche Mädchen, die viel
leicht nur die nothdürftigsten c.zendischen Ausdrücke verstehen, fortwäh
rend den seltsamsten Eindrücken ausgesetzt; sie glauben sich, unte
das Volk tretend, rings von Geheimniß umgeben; ein Spaziergan
in's Dorf ist ein Ab^enteuer; auf der kleinsten Fahrt brauchen si
dann und wann einen Dolmetsch. Und weit weg, verklärt vo
glänzender Ferne, wie in goldnen Abendwolken ruhend, das Lan
ihrer Sehnsucht, die Heimath ihrer Ideale, liegt ihnen die deutsch
Welt; dort tönt ja die Sprache, in dex sie beten und schwärme
gelernt, die Sprache ihrer Dichter und ihrer Liebe; wo selbst der Bet
ler deutsch spricht, muß Arkadien, muß Utopien sein. Alles Ed
und Reine, alles Glänzende und Erhabene, alles Schöne und Lich
ist ihnen deutsch; alles Dunkle und Unheimliche, alles Rohe, Dür
tige, Burleske und Gemeine ist ihnen ezechisch; mit andern Worte
Wirklichkeit und Gegenwart sind böhmisch, Ideal und Zukunft deuts
Und wenn sie einmal plötzlich nach Dentschland kommen, werden
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/33>, abgerufen am 22.12.2024.
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