dem Schneidcrstübchen saß, mir von Herrn Thümmel seine Wander¬ geschichten, von Madame Thümmel von den Kriegszeiten, von der russischen und französischen Einquartierung in ihrem elterlichen Hause erzählen ließ oder mit den Mädchen eine Unterhaltung führte. So viel in meinen Kräften stand, suchte ich ihnen auch die langen Abende und die langweilige Arbeit zu verkürzen, las vor, erzählte, machte auch wohl eine Bowle Punsch und hatte so zuweilen die Freude, sie auf Augenblicke ihre Sorgen vergessen und die stille Gedrücktheit ihres Wesens abwerfen zu sehen. Einst -- es war an Charlottens Ge- burtstage -- saßen wir heiter beisammen, als plötzlich heftig die Klingel gezogen wurde. Charlotte, die mir gegenüber saß, schrack heftig zusammen, als sei ihr dieser Ruf bekannt. Sie ging schnell öffnen; ein Mann, in den Mantel gehüllt, tritt hastig ein; er schlägt den Kragen zurück: der Herr Baron! ruft die ganze Familie mit freudigem Erstaunen. Der Mann -- das sah ich gleich -- mußte hier eine wohlbekannte, gar freundliche Erscheinung sein, mit so ver¬ ehrungsvoller Herzlichkeit begrüßten sie ihn alle. Ich erfuhr, als er sich zu uns an den Tisch gesetzt hatte, daß er lange Zeit das Zim¬ mer, das ich jetzt inne hatte, bewohnt, daß er seit einem Jahre aber verreist gewesen und gestern nach Berlin zurückgekehrt sei. Er war ein Mann von etwa vierunddreißig Jahren, groß und ziemlich stark gebaut, von leichter, aber doch imponirender Haltung. Sein bleiches, etwas aufgedunsenes Gesicht zeigte deutlich die Spuren früherer wü¬ ster Leidenschaften und nobler Passionen und erhielt nur noch durch eine gewählte, höchst geschmackvolle Toilette, so wie durch einen gro¬ ßen blonden Schnurrbart, der den Mangel an Zähnen ziemlich ver¬ deckte, Ausdruck und Leben. Er erzählte viel von seinen Reisen, er¬ kundigte sich nach speciellen Verhältnissen, nannte die Mädchen bei ihren Vornamen, stellte Betrachtungen über ihre Veränderungen und ihre Haartracht an, näherte sich darauf mir, knüpfte eine Unterhaltung über Berlin an und empfahl sich endlich, nachdem er verschiedene kleine Geschenke ausgekramt und den kleinen Kreis in eine wahrhaft ausgelassene Fröhlichkeit versetzt hatte. Charlotte nahm das Licht, ihn hinaus zu geleiten. Herr und Madame Thümmel ergossen sich nun in Lobreden über den Herrn Baron, welch ein gar nobler, fei¬ ner und bescheidener Herr er sei, in welchem freundlichen Verhältniß sie immer mit ihm gelebt und wie gern er ihnen immer gedient habe.
Grenzb-den 58-ii. I. 32
dem Schneidcrstübchen saß, mir von Herrn Thümmel seine Wander¬ geschichten, von Madame Thümmel von den Kriegszeiten, von der russischen und französischen Einquartierung in ihrem elterlichen Hause erzählen ließ oder mit den Mädchen eine Unterhaltung führte. So viel in meinen Kräften stand, suchte ich ihnen auch die langen Abende und die langweilige Arbeit zu verkürzen, las vor, erzählte, machte auch wohl eine Bowle Punsch und hatte so zuweilen die Freude, sie auf Augenblicke ihre Sorgen vergessen und die stille Gedrücktheit ihres Wesens abwerfen zu sehen. Einst — es war an Charlottens Ge- burtstage — saßen wir heiter beisammen, als plötzlich heftig die Klingel gezogen wurde. Charlotte, die mir gegenüber saß, schrack heftig zusammen, als sei ihr dieser Ruf bekannt. Sie ging schnell öffnen; ein Mann, in den Mantel gehüllt, tritt hastig ein; er schlägt den Kragen zurück: der Herr Baron! ruft die ganze Familie mit freudigem Erstaunen. Der Mann — das sah ich gleich — mußte hier eine wohlbekannte, gar freundliche Erscheinung sein, mit so ver¬ ehrungsvoller Herzlichkeit begrüßten sie ihn alle. Ich erfuhr, als er sich zu uns an den Tisch gesetzt hatte, daß er lange Zeit das Zim¬ mer, das ich jetzt inne hatte, bewohnt, daß er seit einem Jahre aber verreist gewesen und gestern nach Berlin zurückgekehrt sei. Er war ein Mann von etwa vierunddreißig Jahren, groß und ziemlich stark gebaut, von leichter, aber doch imponirender Haltung. Sein bleiches, etwas aufgedunsenes Gesicht zeigte deutlich die Spuren früherer wü¬ ster Leidenschaften und nobler Passionen und erhielt nur noch durch eine gewählte, höchst geschmackvolle Toilette, so wie durch einen gro¬ ßen blonden Schnurrbart, der den Mangel an Zähnen ziemlich ver¬ deckte, Ausdruck und Leben. Er erzählte viel von seinen Reisen, er¬ kundigte sich nach speciellen Verhältnissen, nannte die Mädchen bei ihren Vornamen, stellte Betrachtungen über ihre Veränderungen und ihre Haartracht an, näherte sich darauf mir, knüpfte eine Unterhaltung über Berlin an und empfahl sich endlich, nachdem er verschiedene kleine Geschenke ausgekramt und den kleinen Kreis in eine wahrhaft ausgelassene Fröhlichkeit versetzt hatte. Charlotte nahm das Licht, ihn hinaus zu geleiten. Herr und Madame Thümmel ergossen sich nun in Lobreden über den Herrn Baron, welch ein gar nobler, fei¬ ner und bescheidener Herr er sei, in welchem freundlichen Verhältniß sie immer mit ihm gelebt und wie gern er ihnen immer gedient habe.
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dem Schneidcrstübchen saß, mir von Herrn Thümmel seine Wander¬
geschichten, von Madame Thümmel von den Kriegszeiten, von der
russischen und französischen Einquartierung in ihrem elterlichen Hause
erzählen ließ oder mit den Mädchen eine Unterhaltung führte. So
viel in meinen Kräften stand, suchte ich ihnen auch die langen Abende
und die langweilige Arbeit zu verkürzen, las vor, erzählte, machte auch
wohl eine Bowle Punsch und hatte so zuweilen die Freude, sie auf
Augenblicke ihre Sorgen vergessen und die stille Gedrücktheit ihres
Wesens abwerfen zu sehen. Einst — es war an Charlottens Ge-
burtstage — saßen wir heiter beisammen, als plötzlich heftig die
Klingel gezogen wurde. Charlotte, die mir gegenüber saß, schrack
heftig zusammen, als sei ihr dieser Ruf bekannt. Sie ging schnell
öffnen; ein Mann, in den Mantel gehüllt, tritt hastig ein; er schlägt
den Kragen zurück: der Herr Baron! ruft die ganze Familie mit
freudigem Erstaunen. Der Mann — das sah ich gleich — mußte
hier eine wohlbekannte, gar freundliche Erscheinung sein, mit so ver¬
ehrungsvoller Herzlichkeit begrüßten sie ihn alle. Ich erfuhr, als er
sich zu uns an den Tisch gesetzt hatte, daß er lange Zeit das Zim¬
mer, das ich jetzt inne hatte, bewohnt, daß er seit einem Jahre aber
verreist gewesen und gestern nach Berlin zurückgekehrt sei. Er war
ein Mann von etwa vierunddreißig Jahren, groß und ziemlich stark
gebaut, von leichter, aber doch imponirender Haltung. Sein bleiches,
etwas aufgedunsenes Gesicht zeigte deutlich die Spuren früherer wü¬
ster Leidenschaften und nobler Passionen und erhielt nur noch durch
eine gewählte, höchst geschmackvolle Toilette, so wie durch einen gro¬
ßen blonden Schnurrbart, der den Mangel an Zähnen ziemlich ver¬
deckte, Ausdruck und Leben. Er erzählte viel von seinen Reisen, er¬
kundigte sich nach speciellen Verhältnissen, nannte die Mädchen bei
ihren Vornamen, stellte Betrachtungen über ihre Veränderungen und
ihre Haartracht an, näherte sich darauf mir, knüpfte eine Unterhaltung
über Berlin an und empfahl sich endlich, nachdem er verschiedene
kleine Geschenke ausgekramt und den kleinen Kreis in eine wahrhaft
ausgelassene Fröhlichkeit versetzt hatte. Charlotte nahm das Licht,
ihn hinaus zu geleiten. Herr und Madame Thümmel ergossen sich
nun in Lobreden über den Herrn Baron, welch ein gar nobler, fei¬
ner und bescheidener Herr er sei, in welchem freundlichen Verhältniß
sie immer mit ihm gelebt und wie gern er ihnen immer gedient habe.
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/245>, abgerufen am 05.01.2025.
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