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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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sie auch hier bald entdecken, die große geheimnißvolle Tragödie unsres
Jahrhunderts, die noch stummen, aber drohenden Elemente eines
Kampfes, wie er ein Mal, und dann leider nicht zu Euerm Amüse¬
ment oder literarischen Vergnügen, sondern mit fürchterlichem Ernst
aus seinem Versteck hervortreten und für tausendfach durch die be¬
stehenden Verhältnisse zerstörtes, vernichtetes, vergiftetes Lebensglück
die offne blutige Rache fordern könnte. Sieh' Dir doch nur dieses
Berlin an, mit seinem ungeheuern weitverzweigten Straßenlabyrinth,
wie es in kräftiger Werdelust sich täglich mehr zu einer Weltstadt
emporarbeitet; es birgt dreimalhundert und funfzigtausend lebendige
Menschenherzen mit allen ihren wühlenden, gährenden Leidenschaften,
ihren mächtigen Trieben, all ihrem Hunger nach Gewinn und Besitz,
ihrem Anspruch auf Lebensglück und Lebensgenuß, ihrem Jubel und
ihrem Schmerz, ihrem Haß und ihrer Liebe; eS birgt in sich, in
schroffster Weise, alle jene furchtbaren Gegensätze, an denen das mo¬
derne Leben so reich ist: die himmelschreiendste Armuth, den Hunger
nach einem Stück Brod neben dem ausgelassensten, üppigsten, raffi-
nirtesten Reichthum, die überschwänglichfte himmelblickende Frömmig¬
keit neben dem frivolsten Weltsinn, nervenschwache Sentimentalität
neben thierischer zügelloser Rohheit, eingebildete Lakaien-, Krämer¬
und Philisterseelen neben schönen freien Charakteren u. f. w. u. s. w.
Suche Dir von diesem lebendigen Durch-, Neben- und Miteinander
nur ein Bild zu machen und Du wirst schon nicht mehr an den Ge¬
heimnissen zweifeln, die innerhalb dieser chaotischen Bewegung noth¬
wendig verborgen liegen müssen; sie kommen Dir freilich hier noch
nicht so ganz von selber auf offnem Markt entgegen, Du mußt, um
sie zu finden, Dir erst verschlossne Herzen und Häuser zu öffnen, in
sie einzudringen, Dich in ihnen heimisch zu machen, sie zu verstehen
wissen, mußt überhaupt um Dich sehen, beobachten, jede Dir auf¬
stoßende Erscheinung unter einem höhern, allgemeinem Gesichtspunkt,
als Deinem bisher gewohnten, betrachten, daS Leben, die Menschen
und ihre Zustände tiefer erfassen und würdigen lernen, ehe Du über
sie ein Urtheil fällen kannst. -- Da gehst Du ja täglich, als sei es
Deine Pflicht, mit allen Attributen eines Pariser Lion ausgestattet,
von wohlriechenden Pommaden und Wassern duftend, nnter den Lin
den und im Thiergarten spazieren, Du kommst kaum ein Mal ans
diesem Gebiet heraus. Freilich siehst Du auch hier schon den siechen


sie auch hier bald entdecken, die große geheimnißvolle Tragödie unsres
Jahrhunderts, die noch stummen, aber drohenden Elemente eines
Kampfes, wie er ein Mal, und dann leider nicht zu Euerm Amüse¬
ment oder literarischen Vergnügen, sondern mit fürchterlichem Ernst
aus seinem Versteck hervortreten und für tausendfach durch die be¬
stehenden Verhältnisse zerstörtes, vernichtetes, vergiftetes Lebensglück
die offne blutige Rache fordern könnte. Sieh' Dir doch nur dieses
Berlin an, mit seinem ungeheuern weitverzweigten Straßenlabyrinth,
wie es in kräftiger Werdelust sich täglich mehr zu einer Weltstadt
emporarbeitet; es birgt dreimalhundert und funfzigtausend lebendige
Menschenherzen mit allen ihren wühlenden, gährenden Leidenschaften,
ihren mächtigen Trieben, all ihrem Hunger nach Gewinn und Besitz,
ihrem Anspruch auf Lebensglück und Lebensgenuß, ihrem Jubel und
ihrem Schmerz, ihrem Haß und ihrer Liebe; eS birgt in sich, in
schroffster Weise, alle jene furchtbaren Gegensätze, an denen das mo¬
derne Leben so reich ist: die himmelschreiendste Armuth, den Hunger
nach einem Stück Brod neben dem ausgelassensten, üppigsten, raffi-
nirtesten Reichthum, die überschwänglichfte himmelblickende Frömmig¬
keit neben dem frivolsten Weltsinn, nervenschwache Sentimentalität
neben thierischer zügelloser Rohheit, eingebildete Lakaien-, Krämer¬
und Philisterseelen neben schönen freien Charakteren u. f. w. u. s. w.
Suche Dir von diesem lebendigen Durch-, Neben- und Miteinander
nur ein Bild zu machen und Du wirst schon nicht mehr an den Ge¬
heimnissen zweifeln, die innerhalb dieser chaotischen Bewegung noth¬
wendig verborgen liegen müssen; sie kommen Dir freilich hier noch
nicht so ganz von selber auf offnem Markt entgegen, Du mußt, um
sie zu finden, Dir erst verschlossne Herzen und Häuser zu öffnen, in
sie einzudringen, Dich in ihnen heimisch zu machen, sie zu verstehen
wissen, mußt überhaupt um Dich sehen, beobachten, jede Dir auf¬
stoßende Erscheinung unter einem höhern, allgemeinem Gesichtspunkt,
als Deinem bisher gewohnten, betrachten, daS Leben, die Menschen
und ihre Zustände tiefer erfassen und würdigen lernen, ehe Du über
sie ein Urtheil fällen kannst. — Da gehst Du ja täglich, als sei es
Deine Pflicht, mit allen Attributen eines Pariser Lion ausgestattet,
von wohlriechenden Pommaden und Wassern duftend, nnter den Lin
den und im Thiergarten spazieren, Du kommst kaum ein Mal ans
diesem Gebiet heraus. Freilich siehst Du auch hier schon den siechen


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[0021] sie auch hier bald entdecken, die große geheimnißvolle Tragödie unsres Jahrhunderts, die noch stummen, aber drohenden Elemente eines Kampfes, wie er ein Mal, und dann leider nicht zu Euerm Amüse¬ ment oder literarischen Vergnügen, sondern mit fürchterlichem Ernst aus seinem Versteck hervortreten und für tausendfach durch die be¬ stehenden Verhältnisse zerstörtes, vernichtetes, vergiftetes Lebensglück die offne blutige Rache fordern könnte. Sieh' Dir doch nur dieses Berlin an, mit seinem ungeheuern weitverzweigten Straßenlabyrinth, wie es in kräftiger Werdelust sich täglich mehr zu einer Weltstadt emporarbeitet; es birgt dreimalhundert und funfzigtausend lebendige Menschenherzen mit allen ihren wühlenden, gährenden Leidenschaften, ihren mächtigen Trieben, all ihrem Hunger nach Gewinn und Besitz, ihrem Anspruch auf Lebensglück und Lebensgenuß, ihrem Jubel und ihrem Schmerz, ihrem Haß und ihrer Liebe; eS birgt in sich, in schroffster Weise, alle jene furchtbaren Gegensätze, an denen das mo¬ derne Leben so reich ist: die himmelschreiendste Armuth, den Hunger nach einem Stück Brod neben dem ausgelassensten, üppigsten, raffi- nirtesten Reichthum, die überschwänglichfte himmelblickende Frömmig¬ keit neben dem frivolsten Weltsinn, nervenschwache Sentimentalität neben thierischer zügelloser Rohheit, eingebildete Lakaien-, Krämer¬ und Philisterseelen neben schönen freien Charakteren u. f. w. u. s. w. Suche Dir von diesem lebendigen Durch-, Neben- und Miteinander nur ein Bild zu machen und Du wirst schon nicht mehr an den Ge¬ heimnissen zweifeln, die innerhalb dieser chaotischen Bewegung noth¬ wendig verborgen liegen müssen; sie kommen Dir freilich hier noch nicht so ganz von selber auf offnem Markt entgegen, Du mußt, um sie zu finden, Dir erst verschlossne Herzen und Häuser zu öffnen, in sie einzudringen, Dich in ihnen heimisch zu machen, sie zu verstehen wissen, mußt überhaupt um Dich sehen, beobachten, jede Dir auf¬ stoßende Erscheinung unter einem höhern, allgemeinem Gesichtspunkt, als Deinem bisher gewohnten, betrachten, daS Leben, die Menschen und ihre Zustände tiefer erfassen und würdigen lernen, ehe Du über sie ein Urtheil fällen kannst. — Da gehst Du ja täglich, als sei es Deine Pflicht, mit allen Attributen eines Pariser Lion ausgestattet, von wohlriechenden Pommaden und Wassern duftend, nnter den Lin den und im Thiergarten spazieren, Du kommst kaum ein Mal ans diesem Gebiet heraus. Freilich siehst Du auch hier schon den siechen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/21>, abgerufen am 22.12.2024.