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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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, , Und wirklich wurde der Vorhang des Balkons auseinandergc-
Wagen, und es zeigte sich dahinter eine reizende Frauengestalt, ganz
weiß, gekleidet und deutlich zu erkennen bei dem Schein einer Nacht¬
lampe. Langsam näherte sich diese Gestalt dem Rande des Balkons,
dann rief sie mit sanfter Stimme, süßer als der schmeichelnde Ton
einer Nachtigall:

Bist Du da, wein Freund?

-- Seit einer Stunde, seit einem Jahrhunderte bin ich hierund
harre Dein, erwiderte der Mann in schwarzem Mantel, indem er sich
auf den, Fußspitzen dem Balkon näherte. Aber was ist die Zeit für
mich, was sind die Schrecken dieser Gewitternacht, da, ich jetzt Dich
wiedersehe?

Darauf entspann sich ein Zweigespräch der Liebe, zärtlich und
vertraut, ein Austausch der Gefühle, worin eine ganze Welt von
Gedanken und Erfindungen sich offenbart und mittheilt. Man konnte
glauben, der entzückenden Scene in Shakspeare beizuwohnen, wo der
große Dichter seine ganze Seele in die liebeglühenden Reden Romeos
und in die holden, bezaubernden Worte Juliens gelegt zu haben
scheint. Es war, als wenn zwei Engel mitten in der irdischen Welt
sich über die Seligkeit der himmlischen unterhielten. , Endlich schien
der Augenblick der Trennung gekommen. Die weiße Hand der Dame
ließ einen Blumenstrauß zu den Füßen des Unbekannten fallen, indem
sie ihm die Worte zurief:

-- Nimm dies, Herrmann, bewahre diese Rosen zum Andenken
des verflossenen Abends. Ich habe sie gestern bei dem Feste getragen
und sie für Dich behalten, damit sie Dir, die Gedanken wiedersagen
sollten, die mein Herz mit Freude durchschauerten, in dem Augenblicke,
als Du mir in jener großen Menschenwüste erschienst, die man einen
Hof nennt.,

-- Dank, Geliebte, taufend Dank! flüsterte der Jüngling im
schwarzen Mantel. Ich werde diese Gabe nur mit dem Leben von
mir lassen.

-- Dem wird nicht also sein! unterbrach ihn eine rauhdonnernde
Stimme, indem eine eiserne Hand auf des Pagen Herrmann rechte
Schulter schlug. Zu gleicher Zeit zuckte em Blitzstrahl durch die
Wolken und erhellte Mchtig diese nächtliche Scene. Mit einem Schrei
des Schreckens warf die Jungfrau sich auf die Kniee, ihre Arme


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, , Und wirklich wurde der Vorhang des Balkons auseinandergc-
Wagen, und es zeigte sich dahinter eine reizende Frauengestalt, ganz
weiß, gekleidet und deutlich zu erkennen bei dem Schein einer Nacht¬
lampe. Langsam näherte sich diese Gestalt dem Rande des Balkons,
dann rief sie mit sanfter Stimme, süßer als der schmeichelnde Ton
einer Nachtigall:

Bist Du da, wein Freund?

— Seit einer Stunde, seit einem Jahrhunderte bin ich hierund
harre Dein, erwiderte der Mann in schwarzem Mantel, indem er sich
auf den, Fußspitzen dem Balkon näherte. Aber was ist die Zeit für
mich, was sind die Schrecken dieser Gewitternacht, da, ich jetzt Dich
wiedersehe?

Darauf entspann sich ein Zweigespräch der Liebe, zärtlich und
vertraut, ein Austausch der Gefühle, worin eine ganze Welt von
Gedanken und Erfindungen sich offenbart und mittheilt. Man konnte
glauben, der entzückenden Scene in Shakspeare beizuwohnen, wo der
große Dichter seine ganze Seele in die liebeglühenden Reden Romeos
und in die holden, bezaubernden Worte Juliens gelegt zu haben
scheint. Es war, als wenn zwei Engel mitten in der irdischen Welt
sich über die Seligkeit der himmlischen unterhielten. , Endlich schien
der Augenblick der Trennung gekommen. Die weiße Hand der Dame
ließ einen Blumenstrauß zu den Füßen des Unbekannten fallen, indem
sie ihm die Worte zurief:

— Nimm dies, Herrmann, bewahre diese Rosen zum Andenken
des verflossenen Abends. Ich habe sie gestern bei dem Feste getragen
und sie für Dich behalten, damit sie Dir, die Gedanken wiedersagen
sollten, die mein Herz mit Freude durchschauerten, in dem Augenblicke,
als Du mir in jener großen Menschenwüste erschienst, die man einen
Hof nennt.,

— Dank, Geliebte, taufend Dank! flüsterte der Jüngling im
schwarzen Mantel. Ich werde diese Gabe nur mit dem Leben von
mir lassen.

— Dem wird nicht also sein! unterbrach ihn eine rauhdonnernde
Stimme, indem eine eiserne Hand auf des Pagen Herrmann rechte
Schulter schlug. Zu gleicher Zeit zuckte em Blitzstrahl durch die
Wolken und erhellte Mchtig diese nächtliche Scene. Mit einem Schrei
des Schreckens warf die Jungfrau sich auf die Kniee, ihre Arme


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[0653] , , Und wirklich wurde der Vorhang des Balkons auseinandergc- Wagen, und es zeigte sich dahinter eine reizende Frauengestalt, ganz weiß, gekleidet und deutlich zu erkennen bei dem Schein einer Nacht¬ lampe. Langsam näherte sich diese Gestalt dem Rande des Balkons, dann rief sie mit sanfter Stimme, süßer als der schmeichelnde Ton einer Nachtigall: Bist Du da, wein Freund? — Seit einer Stunde, seit einem Jahrhunderte bin ich hierund harre Dein, erwiderte der Mann in schwarzem Mantel, indem er sich auf den, Fußspitzen dem Balkon näherte. Aber was ist die Zeit für mich, was sind die Schrecken dieser Gewitternacht, da, ich jetzt Dich wiedersehe? Darauf entspann sich ein Zweigespräch der Liebe, zärtlich und vertraut, ein Austausch der Gefühle, worin eine ganze Welt von Gedanken und Erfindungen sich offenbart und mittheilt. Man konnte glauben, der entzückenden Scene in Shakspeare beizuwohnen, wo der große Dichter seine ganze Seele in die liebeglühenden Reden Romeos und in die holden, bezaubernden Worte Juliens gelegt zu haben scheint. Es war, als wenn zwei Engel mitten in der irdischen Welt sich über die Seligkeit der himmlischen unterhielten. , Endlich schien der Augenblick der Trennung gekommen. Die weiße Hand der Dame ließ einen Blumenstrauß zu den Füßen des Unbekannten fallen, indem sie ihm die Worte zurief: — Nimm dies, Herrmann, bewahre diese Rosen zum Andenken des verflossenen Abends. Ich habe sie gestern bei dem Feste getragen und sie für Dich behalten, damit sie Dir, die Gedanken wiedersagen sollten, die mein Herz mit Freude durchschauerten, in dem Augenblicke, als Du mir in jener großen Menschenwüste erschienst, die man einen Hof nennt., — Dank, Geliebte, taufend Dank! flüsterte der Jüngling im schwarzen Mantel. Ich werde diese Gabe nur mit dem Leben von mir lassen. — Dem wird nicht also sein! unterbrach ihn eine rauhdonnernde Stimme, indem eine eiserne Hand auf des Pagen Herrmann rechte Schulter schlug. Zu gleicher Zeit zuckte em Blitzstrahl durch die Wolken und erhellte Mchtig diese nächtliche Scene. Mit einem Schrei des Schreckens warf die Jungfrau sich auf die Kniee, ihre Arme 86»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/653>, abgerufen am 22.12.2024.