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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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den lauter schnarchen, ,als der Schauspieler deklamiren kann. Aber
derselbe Bauer, derselbe Handwerker wird Euch die schönsten -Lieder
singen von seiner Liebe und von seinem Glauben, von seiner Freude
und von seinem Trübsal, von seinem Vaterland und von seiner Hütte.
--, Das, Drama und das Epos, sind kostbare Pflanzen, die> einen
cultivirten- Boden verlangen; die Lyrik wächst aber wie eine
grüne Eiche frei im- Walde auf, und lockt Jederman in ih¬
ren heimlichen Schatten. Das Drama und das Epos sind wie Bild¬
hauerkunst und Malerei/ es bedars eines scharfen, eines höhern Ver¬
standes, um die Gruppen zu begreifen. Die Lyrik aber ist wie die
Musik, überall verständlich, überall geliebt. Der Knabe an der Mut¬
ter Brust wird mit Lyrik eingewiegt, der Greis aus der Bahre wird
mit Lyrik zu Grabe begleitet.

Deutschland, die Heimath der Eichen und der Musik, ist auch
ein gedeihlicher Boden sür das lyrische Gedicht. In einem Lande,
wo die Bewohner mehr inneres als äußeres Leben haben, mehr füh-
len^als sprechen, mehr denken als handeln, da muß natürlich eine
DichtungMt, die eben nur mit Fühlen und Denken sich beschäftigt,
und das Handeln ausschließt, ganz besonders üppige Zweige treiben.
In Frankreich, wo die That rascher noch als der Gedanke fliegt, und
wo die Zunge zum Wenigsten eben so schnell als das Herz sich be¬
wegt--da ist die lyrische Poesie ziemlich sparsam ausgesäet, und
außer Beranger, Lamartine und Victor Hugo zählt die französische
Literatur gar wenige Lyriker von Bedeutung. Corneille, Ra¬
cine und Moll<-re haben keine lyrischen Gedichte hinterlassen, wenig¬
stens keine, die im Munde des Volkes leben. In Deutschland hin¬
gegen hat jeder große Dichter neben dem Hauptgebäude, das er auf¬
geführt, noch eine Reihe voll grüner und frischer lyrischer Gärten
angelegt: Göthe, Schiller, Wieland, Klopstock, Kleist, Tieck, Schle¬
gel, und das Volk erquickt sich oftmals noch lieber in den grüne":
Gebüschen, als in dem stolzen und prächtigen Hauptpalast. Ein ein¬
ziger großer deutscher Dichter hat keine lyrischen Gedichte hinterlassen
-- Jean Paul. Aber man würde sich täuschen, wenn man glauben
wollte, er habe durchaus eine Ausnahme gemacht. Jean Paul un¬
terscheidet sich von unsern übrigen großen Dichtern nur darin, daß
er keine Gärten von Außen angelegt hat, daß er seine lyrischen Ge¬
dichte nicht in eigene Hecken und Alleen abgetheilt, sondern daß er


den lauter schnarchen, ,als der Schauspieler deklamiren kann. Aber
derselbe Bauer, derselbe Handwerker wird Euch die schönsten -Lieder
singen von seiner Liebe und von seinem Glauben, von seiner Freude
und von seinem Trübsal, von seinem Vaterland und von seiner Hütte.
—, Das, Drama und das Epos, sind kostbare Pflanzen, die> einen
cultivirten- Boden verlangen; die Lyrik wächst aber wie eine
grüne Eiche frei im- Walde auf, und lockt Jederman in ih¬
ren heimlichen Schatten. Das Drama und das Epos sind wie Bild¬
hauerkunst und Malerei/ es bedars eines scharfen, eines höhern Ver¬
standes, um die Gruppen zu begreifen. Die Lyrik aber ist wie die
Musik, überall verständlich, überall geliebt. Der Knabe an der Mut¬
ter Brust wird mit Lyrik eingewiegt, der Greis aus der Bahre wird
mit Lyrik zu Grabe begleitet.

Deutschland, die Heimath der Eichen und der Musik, ist auch
ein gedeihlicher Boden sür das lyrische Gedicht. In einem Lande,
wo die Bewohner mehr inneres als äußeres Leben haben, mehr füh-
len^als sprechen, mehr denken als handeln, da muß natürlich eine
DichtungMt, die eben nur mit Fühlen und Denken sich beschäftigt,
und das Handeln ausschließt, ganz besonders üppige Zweige treiben.
In Frankreich, wo die That rascher noch als der Gedanke fliegt, und
wo die Zunge zum Wenigsten eben so schnell als das Herz sich be¬
wegt—da ist die lyrische Poesie ziemlich sparsam ausgesäet, und
außer Beranger, Lamartine und Victor Hugo zählt die französische
Literatur gar wenige Lyriker von Bedeutung. Corneille, Ra¬
cine und Moll<-re haben keine lyrischen Gedichte hinterlassen, wenig¬
stens keine, die im Munde des Volkes leben. In Deutschland hin¬
gegen hat jeder große Dichter neben dem Hauptgebäude, das er auf¬
geführt, noch eine Reihe voll grüner und frischer lyrischer Gärten
angelegt: Göthe, Schiller, Wieland, Klopstock, Kleist, Tieck, Schle¬
gel, und das Volk erquickt sich oftmals noch lieber in den grüne«:
Gebüschen, als in dem stolzen und prächtigen Hauptpalast. Ein ein¬
ziger großer deutscher Dichter hat keine lyrischen Gedichte hinterlassen
-- Jean Paul. Aber man würde sich täuschen, wenn man glauben
wollte, er habe durchaus eine Ausnahme gemacht. Jean Paul un¬
terscheidet sich von unsern übrigen großen Dichtern nur darin, daß
er keine Gärten von Außen angelegt hat, daß er seine lyrischen Ge¬
dichte nicht in eigene Hecken und Alleen abgetheilt, sondern daß er


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[0614] den lauter schnarchen, ,als der Schauspieler deklamiren kann. Aber derselbe Bauer, derselbe Handwerker wird Euch die schönsten -Lieder singen von seiner Liebe und von seinem Glauben, von seiner Freude und von seinem Trübsal, von seinem Vaterland und von seiner Hütte. —, Das, Drama und das Epos, sind kostbare Pflanzen, die> einen cultivirten- Boden verlangen; die Lyrik wächst aber wie eine grüne Eiche frei im- Walde auf, und lockt Jederman in ih¬ ren heimlichen Schatten. Das Drama und das Epos sind wie Bild¬ hauerkunst und Malerei/ es bedars eines scharfen, eines höhern Ver¬ standes, um die Gruppen zu begreifen. Die Lyrik aber ist wie die Musik, überall verständlich, überall geliebt. Der Knabe an der Mut¬ ter Brust wird mit Lyrik eingewiegt, der Greis aus der Bahre wird mit Lyrik zu Grabe begleitet. Deutschland, die Heimath der Eichen und der Musik, ist auch ein gedeihlicher Boden sür das lyrische Gedicht. In einem Lande, wo die Bewohner mehr inneres als äußeres Leben haben, mehr füh- len^als sprechen, mehr denken als handeln, da muß natürlich eine DichtungMt, die eben nur mit Fühlen und Denken sich beschäftigt, und das Handeln ausschließt, ganz besonders üppige Zweige treiben. In Frankreich, wo die That rascher noch als der Gedanke fliegt, und wo die Zunge zum Wenigsten eben so schnell als das Herz sich be¬ wegt—da ist die lyrische Poesie ziemlich sparsam ausgesäet, und außer Beranger, Lamartine und Victor Hugo zählt die französische Literatur gar wenige Lyriker von Bedeutung. Corneille, Ra¬ cine und Moll<-re haben keine lyrischen Gedichte hinterlassen, wenig¬ stens keine, die im Munde des Volkes leben. In Deutschland hin¬ gegen hat jeder große Dichter neben dem Hauptgebäude, das er auf¬ geführt, noch eine Reihe voll grüner und frischer lyrischer Gärten angelegt: Göthe, Schiller, Wieland, Klopstock, Kleist, Tieck, Schle¬ gel, und das Volk erquickt sich oftmals noch lieber in den grüne«: Gebüschen, als in dem stolzen und prächtigen Hauptpalast. Ein ein¬ ziger großer deutscher Dichter hat keine lyrischen Gedichte hinterlassen -- Jean Paul. Aber man würde sich täuschen, wenn man glauben wollte, er habe durchaus eine Ausnahme gemacht. Jean Paul un¬ terscheidet sich von unsern übrigen großen Dichtern nur darin, daß er keine Gärten von Außen angelegt hat, daß er seine lyrischen Ge¬ dichte nicht in eigene Hecken und Alleen abgetheilt, sondern daß er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/614>, abgerufen am 25.06.2024.