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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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gefaßt; das Schicksal, muß es pfiffig anstellen, wenn es ihn überraschen
will. -- Indem ich hierüber reiflicher nachdenke, bin ich geneigt, anzu¬
nehmen, daß er eher ein Philosoph als ein Narr ist; jedoch ich will
Nichts behauptet haben; es ist zu schwer, hier die rechte Nuance zu er¬
greifen. ,

Unter den Nomaden muß man diejenigen, die es aus Character
sind, wie mein liebenswürdiger Nachbar, von denen unterscheiden, die
es nur zufällig sind. Auch muß man sich Ma, gewisse Leute unter
die Nomaden zu zählen, weil sie ihr Lebenlang ^erumschweifcn, und nir¬
gends eine dauernde Wohnstätte haben. So gehört z. B. der Englän¬
der nicht unter die Nomaden, obgleich er fortwährend auf Reisen ist;
denn er ist überall zu Hause, gleichsam als wäre die ganze Welt sein
Privateigenthum; er nimmt überallhin seinen häuslichen Comfort mit,
gleich wie die Schnecke ihr Häus mit sich trägt. Je weiter Man nach
dem Süden vorwärts dringt, desto mehr Nomaden findet man. Der
italienische Lazzarone, wie ihn Anastasius Grün in seinem Cincinnatus
so herrlich schildert, macht sich einen Ruhm daraus.

Die Erscheinung erklärt sich übrigens leicht durch den Einfluß deö
Clima's; wenn man stets einen schönen azurblauen Himmel über seinem
Haupte hat, H trägt man kein Verlangen nach einem besser gebauten
Deckgewölbe; unter wessen Augen .stets das große Buch der Natur auf¬
geschlagen ist, der verschmäht es in staubigen Pergamenten zu wühlen.
Darum ist namentlich der norddeutsche so antinomadisch, so bleiern sta¬
bil, so büchcrgelehrt, weil sein Clima ihn aus der freien Natur in's
enge Zimmer getrieben, weil die rauhen Winde ihn gezwungen, sein
Haus fest zu mauern in der Erde Tiefen und weil es im menschlichen
Charakter liegt, das, was uns viele Mühe gekostet, hochzuschätzen und
festzuhalten. Darum gleicht das gesellige und politische Leben Deutsch¬
lands seinen Eichen; sie geben Schatten aber keine schmackhafte, erquick¬
liche Freiheit.

Schreiben Sie Politik? fragte Plötzlich mein Nachbar, der seit eini¬
gen Minuten aus dem Schlafe erwacht war. -- Halb und halb, ant¬
wortete ich. -- Wollen Sie von mir ein Motto für ihren Artikel? --
Recht gern. -- Iveorti c^no Kita Ar-ni> sagte der Professor gähnend.
-- El, das ist aber der Wahlspruch aller Zeiten, bemerkte ich. -- Und
auch der meine, entgegnete der Nomade, hüllte sich in seinen Mantel
und stieg majestätisch in sein Dachkämmerchen, um auf seinem Feldbette
seinen Schlaf fortzusetzen. > .




gefaßt; das Schicksal, muß es pfiffig anstellen, wenn es ihn überraschen
will. — Indem ich hierüber reiflicher nachdenke, bin ich geneigt, anzu¬
nehmen, daß er eher ein Philosoph als ein Narr ist; jedoch ich will
Nichts behauptet haben; es ist zu schwer, hier die rechte Nuance zu er¬
greifen. ,

Unter den Nomaden muß man diejenigen, die es aus Character
sind, wie mein liebenswürdiger Nachbar, von denen unterscheiden, die
es nur zufällig sind. Auch muß man sich Ma, gewisse Leute unter
die Nomaden zu zählen, weil sie ihr Lebenlang ^erumschweifcn, und nir¬
gends eine dauernde Wohnstätte haben. So gehört z. B. der Englän¬
der nicht unter die Nomaden, obgleich er fortwährend auf Reisen ist;
denn er ist überall zu Hause, gleichsam als wäre die ganze Welt sein
Privateigenthum; er nimmt überallhin seinen häuslichen Comfort mit,
gleich wie die Schnecke ihr Häus mit sich trägt. Je weiter Man nach
dem Süden vorwärts dringt, desto mehr Nomaden findet man. Der
italienische Lazzarone, wie ihn Anastasius Grün in seinem Cincinnatus
so herrlich schildert, macht sich einen Ruhm daraus.

Die Erscheinung erklärt sich übrigens leicht durch den Einfluß deö
Clima's; wenn man stets einen schönen azurblauen Himmel über seinem
Haupte hat, H trägt man kein Verlangen nach einem besser gebauten
Deckgewölbe; unter wessen Augen .stets das große Buch der Natur auf¬
geschlagen ist, der verschmäht es in staubigen Pergamenten zu wühlen.
Darum ist namentlich der norddeutsche so antinomadisch, so bleiern sta¬
bil, so büchcrgelehrt, weil sein Clima ihn aus der freien Natur in's
enge Zimmer getrieben, weil die rauhen Winde ihn gezwungen, sein
Haus fest zu mauern in der Erde Tiefen und weil es im menschlichen
Charakter liegt, das, was uns viele Mühe gekostet, hochzuschätzen und
festzuhalten. Darum gleicht das gesellige und politische Leben Deutsch¬
lands seinen Eichen; sie geben Schatten aber keine schmackhafte, erquick¬
liche Freiheit.

Schreiben Sie Politik? fragte Plötzlich mein Nachbar, der seit eini¬
gen Minuten aus dem Schlafe erwacht war. — Halb und halb, ant¬
wortete ich. — Wollen Sie von mir ein Motto für ihren Artikel? —
Recht gern. — Iveorti c^no Kita Ar-ni> sagte der Professor gähnend.
— El, das ist aber der Wahlspruch aller Zeiten, bemerkte ich. — Und
auch der meine, entgegnete der Nomade, hüllte sich in seinen Mantel
und stieg majestätisch in sein Dachkämmerchen, um auf seinem Feldbette
seinen Schlaf fortzusetzen. > .




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/430>, abgerufen am 23.07.2024.