Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

jetzt wird ihrem Andenken auch nicht eine Thräne geschenkt, es müßte
denn von Träumern sein, die wie Walter Scott's Greis die Gräber
gern bedauern, und an jenem trauervollen Tage des 18ten Januars,
wäre da nicht der> alte Doge aus Schmerz die Eroberung seines Vater¬
landes herbeigeführt zu sehen, ohnmächtig geworden, so würde es nicht
einmal Jemandem eingefallen sein, daß es einst ein venetianisches Volk
gegeben, das in den Annalen der Weltgeschichte ewig berühmt ist. Na¬
poleon machte sein Probestück durch die Vernichtung dieses alten Reichs.
Aber wie geheimnißvoll sind die Wege der Vorsehung, wie verschieden¬
artig die Urtheile des Menschen! Ein andres, ebenfalls gesunkenes
Volk, das auch ein mächtiges Reich besessen, 'empörte sich gegen den
neuen Cäsar, und ward die erste Ursache seines Unterganges, als er'
alle Rechte der Menschheit verachtend, seine Unterdrückung decretirett
wollte. Nicht eine Stimme hatte sich in Europa erhoben, um gegen
den diplomatischen Mord Venedigs zu reclamiren, und im Chor klatsch¬
ten die Nationen Spaniens patriotischen Anstrengungen Beifall. - Wie
soll man diese Widersprüche erklären? Erröthcte die öffentliche Mei¬
nung zuletzt über ihre Gleichgültigkeit? Nicht doch! Aber die Völker
haben ein angebornes Gefühl ihrer Brüderschaft, das sie nie täuscht!
Daß Spanien unterdrückt und nahe daran wen> eine gewaltsame Theilung zu
erleiden, war einer jener Schläge, die ein's Herz gehen; man fühlte es
tief, daß hiemit ein Volk erdolcht werde; Venedig war kein-Volk, es
war nur eine politische Macht, und wer geräth sür eine politische Macht
in Leidenschaft, besonders wenn sie zu-Nichts mehr taugt! Darum ist
Venedig gefallen, ohne daß das Jahrhundert es beachtet. Wahrlich,
nirgends wird die Philosophie der Geschichte, wie Hegel sie aufgefaßt,
uns bewußter und, nie erscheint sie wahrheitsvoller als hier. Vene¬
digs Rolle ist nun in der Weltgeschichte geendigt; es war lange ge¬
nug Schauspieler, jetzt ist es Zuschauer geworden, und wie Greise, die
alle menschlichen Eitelkeiten hinter sich gelassen, kann es mitleidsvoll das
rauschende Theater betrachten, auf dem die Nationen sich bewegen, de¬
ren Geburt es mit angesehen. Was liegt ihm an der, Fremdherrschaft?
Es fühlt sie nicht, und die beiden vermummten Kanonen der Piazzetta
stören seine Ruhe nicht. An der Thüre des herzoglichen Palastes bezo¬
gen sonst Slavonier die Wache; heut sind es Ungarn; was macht dies
sür einen Unterschied? Seitdem der Reisende unter seinem Fuße den
tönenden Boden aller Säle dieses traurigen Palastes widerhallen läßt,
der sonst undurchdringlichen ^Mpsteriel? geweiht war; seitdem unter den


jetzt wird ihrem Andenken auch nicht eine Thräne geschenkt, es müßte
denn von Träumern sein, die wie Walter Scott's Greis die Gräber
gern bedauern, und an jenem trauervollen Tage des 18ten Januars,
wäre da nicht der> alte Doge aus Schmerz die Eroberung seines Vater¬
landes herbeigeführt zu sehen, ohnmächtig geworden, so würde es nicht
einmal Jemandem eingefallen sein, daß es einst ein venetianisches Volk
gegeben, das in den Annalen der Weltgeschichte ewig berühmt ist. Na¬
poleon machte sein Probestück durch die Vernichtung dieses alten Reichs.
Aber wie geheimnißvoll sind die Wege der Vorsehung, wie verschieden¬
artig die Urtheile des Menschen! Ein andres, ebenfalls gesunkenes
Volk, das auch ein mächtiges Reich besessen, 'empörte sich gegen den
neuen Cäsar, und ward die erste Ursache seines Unterganges, als er'
alle Rechte der Menschheit verachtend, seine Unterdrückung decretirett
wollte. Nicht eine Stimme hatte sich in Europa erhoben, um gegen
den diplomatischen Mord Venedigs zu reclamiren, und im Chor klatsch¬
ten die Nationen Spaniens patriotischen Anstrengungen Beifall. - Wie
soll man diese Widersprüche erklären? Erröthcte die öffentliche Mei¬
nung zuletzt über ihre Gleichgültigkeit? Nicht doch! Aber die Völker
haben ein angebornes Gefühl ihrer Brüderschaft, das sie nie täuscht!
Daß Spanien unterdrückt und nahe daran wen> eine gewaltsame Theilung zu
erleiden, war einer jener Schläge, die ein's Herz gehen; man fühlte es
tief, daß hiemit ein Volk erdolcht werde; Venedig war kein-Volk, es
war nur eine politische Macht, und wer geräth sür eine politische Macht
in Leidenschaft, besonders wenn sie zu-Nichts mehr taugt! Darum ist
Venedig gefallen, ohne daß das Jahrhundert es beachtet. Wahrlich,
nirgends wird die Philosophie der Geschichte, wie Hegel sie aufgefaßt,
uns bewußter und, nie erscheint sie wahrheitsvoller als hier. Vene¬
digs Rolle ist nun in der Weltgeschichte geendigt; es war lange ge¬
nug Schauspieler, jetzt ist es Zuschauer geworden, und wie Greise, die
alle menschlichen Eitelkeiten hinter sich gelassen, kann es mitleidsvoll das
rauschende Theater betrachten, auf dem die Nationen sich bewegen, de¬
ren Geburt es mit angesehen. Was liegt ihm an der, Fremdherrschaft?
Es fühlt sie nicht, und die beiden vermummten Kanonen der Piazzetta
stören seine Ruhe nicht. An der Thüre des herzoglichen Palastes bezo¬
gen sonst Slavonier die Wache; heut sind es Ungarn; was macht dies
sür einen Unterschied? Seitdem der Reisende unter seinem Fuße den
tönenden Boden aller Säle dieses traurigen Palastes widerhallen läßt,
der sonst undurchdringlichen ^Mpsteriel? geweiht war; seitdem unter den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267556"/>
            <p xml:id="ID_1313" prev="#ID_1312" next="#ID_1314"> jetzt wird ihrem Andenken auch nicht eine Thräne geschenkt, es müßte<lb/>
denn von Träumern sein, die wie Walter Scott's Greis die Gräber<lb/>
gern bedauern, und an jenem trauervollen Tage des 18ten Januars,<lb/>
wäre da nicht der&gt; alte Doge aus Schmerz die Eroberung seines Vater¬<lb/>
landes herbeigeführt zu sehen, ohnmächtig geworden, so würde es nicht<lb/>
einmal Jemandem eingefallen sein, daß es einst ein venetianisches Volk<lb/>
gegeben, das in den Annalen der Weltgeschichte ewig berühmt ist. Na¬<lb/>
poleon machte sein Probestück durch die Vernichtung dieses alten Reichs.<lb/>
Aber wie geheimnißvoll sind die Wege der Vorsehung, wie verschieden¬<lb/>
artig die Urtheile des Menschen!  Ein andres, ebenfalls gesunkenes<lb/>
Volk, das auch ein mächtiges Reich besessen, 'empörte sich gegen den<lb/>
neuen Cäsar, und ward die erste Ursache seines Unterganges, als er'<lb/>
alle Rechte der Menschheit verachtend, seine Unterdrückung decretirett<lb/>
wollte. Nicht eine Stimme hatte sich in Europa erhoben, um gegen<lb/>
den diplomatischen Mord Venedigs zu reclamiren, und im Chor klatsch¬<lb/>
ten die Nationen Spaniens patriotischen Anstrengungen Beifall. - Wie<lb/>
soll man diese Widersprüche erklären? Erröthcte die öffentliche Mei¬<lb/>
nung zuletzt über ihre Gleichgültigkeit? Nicht doch! Aber die Völker<lb/>
haben ein angebornes Gefühl ihrer Brüderschaft, das sie nie täuscht!<lb/>
Daß Spanien unterdrückt und nahe daran wen&gt; eine gewaltsame Theilung zu<lb/>
erleiden, war einer jener Schläge, die ein's Herz gehen; man fühlte es<lb/>
tief, daß hiemit ein Volk erdolcht werde; Venedig war kein-Volk, es<lb/>
war nur eine politische Macht, und wer geräth sür eine politische Macht<lb/>
in Leidenschaft, besonders wenn sie zu-Nichts mehr taugt! Darum ist<lb/>
Venedig gefallen, ohne daß das Jahrhundert es beachtet. Wahrlich,<lb/>
nirgends wird die Philosophie der Geschichte, wie Hegel sie aufgefaßt,<lb/>
uns bewußter und, nie erscheint sie wahrheitsvoller als hier. Vene¬<lb/>
digs Rolle ist nun in der Weltgeschichte geendigt; es war lange ge¬<lb/>
nug Schauspieler, jetzt ist es Zuschauer geworden, und wie Greise, die<lb/>
alle menschlichen Eitelkeiten hinter sich gelassen, kann es mitleidsvoll das<lb/>
rauschende Theater betrachten, auf dem die Nationen sich bewegen, de¬<lb/>
ren Geburt es mit angesehen. Was liegt ihm an der, Fremdherrschaft?<lb/>
Es fühlt sie nicht, und die beiden vermummten Kanonen der Piazzetta<lb/>
stören seine Ruhe nicht. An der Thüre des herzoglichen Palastes bezo¬<lb/>
gen sonst Slavonier die Wache; heut sind es Ungarn; was macht dies<lb/>
sür einen Unterschied? Seitdem der Reisende unter seinem Fuße den<lb/>
tönenden Boden aller Säle dieses traurigen Palastes widerhallen läßt,<lb/>
der sonst undurchdringlichen ^Mpsteriel? geweiht war; seitdem unter den</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] jetzt wird ihrem Andenken auch nicht eine Thräne geschenkt, es müßte denn von Träumern sein, die wie Walter Scott's Greis die Gräber gern bedauern, und an jenem trauervollen Tage des 18ten Januars, wäre da nicht der> alte Doge aus Schmerz die Eroberung seines Vater¬ landes herbeigeführt zu sehen, ohnmächtig geworden, so würde es nicht einmal Jemandem eingefallen sein, daß es einst ein venetianisches Volk gegeben, das in den Annalen der Weltgeschichte ewig berühmt ist. Na¬ poleon machte sein Probestück durch die Vernichtung dieses alten Reichs. Aber wie geheimnißvoll sind die Wege der Vorsehung, wie verschieden¬ artig die Urtheile des Menschen! Ein andres, ebenfalls gesunkenes Volk, das auch ein mächtiges Reich besessen, 'empörte sich gegen den neuen Cäsar, und ward die erste Ursache seines Unterganges, als er' alle Rechte der Menschheit verachtend, seine Unterdrückung decretirett wollte. Nicht eine Stimme hatte sich in Europa erhoben, um gegen den diplomatischen Mord Venedigs zu reclamiren, und im Chor klatsch¬ ten die Nationen Spaniens patriotischen Anstrengungen Beifall. - Wie soll man diese Widersprüche erklären? Erröthcte die öffentliche Mei¬ nung zuletzt über ihre Gleichgültigkeit? Nicht doch! Aber die Völker haben ein angebornes Gefühl ihrer Brüderschaft, das sie nie täuscht! Daß Spanien unterdrückt und nahe daran wen> eine gewaltsame Theilung zu erleiden, war einer jener Schläge, die ein's Herz gehen; man fühlte es tief, daß hiemit ein Volk erdolcht werde; Venedig war kein-Volk, es war nur eine politische Macht, und wer geräth sür eine politische Macht in Leidenschaft, besonders wenn sie zu-Nichts mehr taugt! Darum ist Venedig gefallen, ohne daß das Jahrhundert es beachtet. Wahrlich, nirgends wird die Philosophie der Geschichte, wie Hegel sie aufgefaßt, uns bewußter und, nie erscheint sie wahrheitsvoller als hier. Vene¬ digs Rolle ist nun in der Weltgeschichte geendigt; es war lange ge¬ nug Schauspieler, jetzt ist es Zuschauer geworden, und wie Greise, die alle menschlichen Eitelkeiten hinter sich gelassen, kann es mitleidsvoll das rauschende Theater betrachten, auf dem die Nationen sich bewegen, de¬ ren Geburt es mit angesehen. Was liegt ihm an der, Fremdherrschaft? Es fühlt sie nicht, und die beiden vermummten Kanonen der Piazzetta stören seine Ruhe nicht. An der Thüre des herzoglichen Palastes bezo¬ gen sonst Slavonier die Wache; heut sind es Ungarn; was macht dies sür einen Unterschied? Seitdem der Reisende unter seinem Fuße den tönenden Boden aller Säle dieses traurigen Palastes widerhallen läßt, der sonst undurchdringlichen ^Mpsteriel? geweiht war; seitdem unter den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/343>, abgerufen am 22.12.2024.