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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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sellschaft nach dem Sturme, der sie erschütterte, nur unvollständig reor-
ganisirt hat, also keinesweges aus die Dauer in diesem Zustande bleiben
kann: es erräth, daß eS selbst nur eine Uebergangsepoche von längerer
oder kürzerer Dauer ist, die zu einem noch nicht gefundenen, aber leb¬
haft gesuchten Zustande festerer Begründung führen soll. Daher rührt
die fast unglaubliche Anzahl politischer und socialer Systeme, die man
seit 1739 hat aufblühen und dahinsterben sehen; daher die Zerstreuung
der Ideen und die in's Unendliche hinabgehende Theilung der Schulen
und ihrer, Anhänger. Das Bedürfniß, die Gesellschaft zu organisiren,
ist in Frankreich so allgemein, daß selbst die Regierung es vorgibt und
ausspricht, diese Sendung zu haben. Wenn Guizot, welcher
das System der Ordnung und Stabilität repräsentirt, zuweilen ein vor¬
übergehendes Opfer der Nationalempfindlichkeiten fordert, so geschieht
dies nur, weil nach seiner Ansicht nur das Festhalten am Bestehenden
und die Ordnung die Möglichkeit ' darbieten, einen dauerhaften gesell¬
schaftlichen Zustand in Frankreich zu begründen. So hält auch Lamar¬
tine der edelste Geist, der sich dieser Sache geweiht hat, seine Augen un¬
ablässig auf-die Zukunft gerichtet. Und selbst die Opposition, welche
die Regierung mit abgenutzten Waffen bekämpft/ verkennt nicht etwa das
Ziel, das beiden gemeinsam ist; sie ist nur'andrer Ansicht über die Mit¬
tel, und glaubt, daß die Wahlreform, ihr altes Heilmittel, auch heute
uoch im Stande sei, die Wunden eines durch so viel Stöße erschütterten
socialen Körpers zu heilen.

Aber diejenigen Parteien, die außerhalb'der regulirten Bewegung'
der StaatSkräfte stehen, welche man parlamentarische Kämpfe nennt,
alle die, deren sichtbares Streben dahin geht, die Regierungsformen zu
ändern, diese sind es vor Allem, die laut ihre Absicht bekennen, die Ge¬
sellschaft auf neuen Grundlagen aufzubauen. Nicht eine von diesen Par¬
teien ist rein politisch; sie haben alle eine sociale Färbung, und in deren
Folge einen Anhang von Radicalen, der, wenn ihnen der Sieg die so
viel ersehnte Macht eines Tages in die Hände spielen sollte, viele der
Parteiführer selbst in Verlegenheit setzen würde. Dies ist glücklicher
Weise die Schwäche dieser Parteien. Seitdem, die Frage so aus ein an¬
dres Feld versetzt worden, seitdem durch die Indiscretion dieser Par¬
teien selbst, es offenkundig geworden, daß jede politische Bewegung auch
eine sociale werden würde, und daß die Veränderung der Thronwappcn
oder die Umgestaltung des Thrones in einen republikanischen Präsiven-
tcnstuhl nur der Vorwand, nicht, aber das Endziel einer Revolution sein


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sellschaft nach dem Sturme, der sie erschütterte, nur unvollständig reor-
ganisirt hat, also keinesweges aus die Dauer in diesem Zustande bleiben
kann: es erräth, daß eS selbst nur eine Uebergangsepoche von längerer
oder kürzerer Dauer ist, die zu einem noch nicht gefundenen, aber leb¬
haft gesuchten Zustande festerer Begründung führen soll. Daher rührt
die fast unglaubliche Anzahl politischer und socialer Systeme, die man
seit 1739 hat aufblühen und dahinsterben sehen; daher die Zerstreuung
der Ideen und die in's Unendliche hinabgehende Theilung der Schulen
und ihrer, Anhänger. Das Bedürfniß, die Gesellschaft zu organisiren,
ist in Frankreich so allgemein, daß selbst die Regierung es vorgibt und
ausspricht, diese Sendung zu haben. Wenn Guizot, welcher
das System der Ordnung und Stabilität repräsentirt, zuweilen ein vor¬
übergehendes Opfer der Nationalempfindlichkeiten fordert, so geschieht
dies nur, weil nach seiner Ansicht nur das Festhalten am Bestehenden
und die Ordnung die Möglichkeit ' darbieten, einen dauerhaften gesell¬
schaftlichen Zustand in Frankreich zu begründen. So hält auch Lamar¬
tine der edelste Geist, der sich dieser Sache geweiht hat, seine Augen un¬
ablässig auf-die Zukunft gerichtet. Und selbst die Opposition, welche
die Regierung mit abgenutzten Waffen bekämpft/ verkennt nicht etwa das
Ziel, das beiden gemeinsam ist; sie ist nur'andrer Ansicht über die Mit¬
tel, und glaubt, daß die Wahlreform, ihr altes Heilmittel, auch heute
uoch im Stande sei, die Wunden eines durch so viel Stöße erschütterten
socialen Körpers zu heilen.

Aber diejenigen Parteien, die außerhalb'der regulirten Bewegung'
der StaatSkräfte stehen, welche man parlamentarische Kämpfe nennt,
alle die, deren sichtbares Streben dahin geht, die Regierungsformen zu
ändern, diese sind es vor Allem, die laut ihre Absicht bekennen, die Ge¬
sellschaft auf neuen Grundlagen aufzubauen. Nicht eine von diesen Par¬
teien ist rein politisch; sie haben alle eine sociale Färbung, und in deren
Folge einen Anhang von Radicalen, der, wenn ihnen der Sieg die so
viel ersehnte Macht eines Tages in die Hände spielen sollte, viele der
Parteiführer selbst in Verlegenheit setzen würde. Dies ist glücklicher
Weise die Schwäche dieser Parteien. Seitdem, die Frage so aus ein an¬
dres Feld versetzt worden, seitdem durch die Indiscretion dieser Par¬
teien selbst, es offenkundig geworden, daß jede politische Bewegung auch
eine sociale werden würde, und daß die Veränderung der Thronwappcn
oder die Umgestaltung des Thrones in einen republikanischen Präsiven-
tcnstuhl nur der Vorwand, nicht, aber das Endziel einer Revolution sein


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[0236] sellschaft nach dem Sturme, der sie erschütterte, nur unvollständig reor- ganisirt hat, also keinesweges aus die Dauer in diesem Zustande bleiben kann: es erräth, daß eS selbst nur eine Uebergangsepoche von längerer oder kürzerer Dauer ist, die zu einem noch nicht gefundenen, aber leb¬ haft gesuchten Zustande festerer Begründung führen soll. Daher rührt die fast unglaubliche Anzahl politischer und socialer Systeme, die man seit 1739 hat aufblühen und dahinsterben sehen; daher die Zerstreuung der Ideen und die in's Unendliche hinabgehende Theilung der Schulen und ihrer, Anhänger. Das Bedürfniß, die Gesellschaft zu organisiren, ist in Frankreich so allgemein, daß selbst die Regierung es vorgibt und ausspricht, diese Sendung zu haben. Wenn Guizot, welcher das System der Ordnung und Stabilität repräsentirt, zuweilen ein vor¬ übergehendes Opfer der Nationalempfindlichkeiten fordert, so geschieht dies nur, weil nach seiner Ansicht nur das Festhalten am Bestehenden und die Ordnung die Möglichkeit ' darbieten, einen dauerhaften gesell¬ schaftlichen Zustand in Frankreich zu begründen. So hält auch Lamar¬ tine der edelste Geist, der sich dieser Sache geweiht hat, seine Augen un¬ ablässig auf-die Zukunft gerichtet. Und selbst die Opposition, welche die Regierung mit abgenutzten Waffen bekämpft/ verkennt nicht etwa das Ziel, das beiden gemeinsam ist; sie ist nur'andrer Ansicht über die Mit¬ tel, und glaubt, daß die Wahlreform, ihr altes Heilmittel, auch heute uoch im Stande sei, die Wunden eines durch so viel Stöße erschütterten socialen Körpers zu heilen. Aber diejenigen Parteien, die außerhalb'der regulirten Bewegung' der StaatSkräfte stehen, welche man parlamentarische Kämpfe nennt, alle die, deren sichtbares Streben dahin geht, die Regierungsformen zu ändern, diese sind es vor Allem, die laut ihre Absicht bekennen, die Ge¬ sellschaft auf neuen Grundlagen aufzubauen. Nicht eine von diesen Par¬ teien ist rein politisch; sie haben alle eine sociale Färbung, und in deren Folge einen Anhang von Radicalen, der, wenn ihnen der Sieg die so viel ersehnte Macht eines Tages in die Hände spielen sollte, viele der Parteiführer selbst in Verlegenheit setzen würde. Dies ist glücklicher Weise die Schwäche dieser Parteien. Seitdem, die Frage so aus ein an¬ dres Feld versetzt worden, seitdem durch die Indiscretion dieser Par¬ teien selbst, es offenkundig geworden, daß jede politische Bewegung auch eine sociale werden würde, und daß die Veränderung der Thronwappcn oder die Umgestaltung des Thrones in einen republikanischen Präsiven- tcnstuhl nur der Vorwand, nicht, aber das Endziel einer Revolution sein 33*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/236>, abgerufen am 22.12.2024.