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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Größe und Einheit und Klarheit am neuen Herd, daß sich kein
böser Geist über die junge Schwelle schleiche!

Die beiden Niesentrümmer harren der neuen Zeit; die Hände
scheinen sich vor ihrer Berührung zu fürchten; wehmüthig ruht das
Auge auf den stummen Tempelresten, über deren offne Wunden die
Stürme hinbrauscn; auf die die Wolken herabweinen. An der
mächtigen Galerie des Nicolai Thurms (sie ist nicht wie Schleiden
sagt, von Holz, sondern von Sandstein) zaust der Wind,
und wirft von Zeit zu Zeit einen Steinblock herab; unheimlich
glitzern in der Abendsonne die spärlichen Neste der Kirchenfenster
im halbgeschmolzenen Gitter; zwischen den wehenden Kupferfetzen,
die wie röthliche Lappen -- die Neste der Thurmbedcckung -- über
die Galerie hin und her schwanken, reckt sich der offne Rachen der
Gießrinnen biegend hernieder, als lechzten sie nach Kühlung; der
Vollmond zeichnet grell die hohen gothischen Fensterbogen und Ge¬
wölbe auf den düstern Mauergrunv. An der Westseite zieht sich
ein schmaler, bandartiger Streifen von der obersten Brüstung bis aus
die Grundmauer herab, er bezeichnet den Platz, an welchem der Blitz¬
ableiter befestigt war, der in der Gluth abschmolz. Auf der äußer¬
sten Spitze des Mittelstücks steht ein einzelner Pfeiler von der steiner¬
nen Galerie; in der Dämmerung ist's, als wäre es eine Schilowache,
die dort einsam herabspäht, die eisernen Klammern scheinen müde
die bauchigten Mauern noch länger zusammenzuhalten; die Giebel
der Seitenkirchen drohen umzuknicken, und der oberste Mauerkranz lugt
mit seinen offnen Fenstern so sterbemüde und gramschwer herab, daß
man ihm anzusehen glaubt, wie sehnsüchtig er den Einsturz herbei¬
wünscht. Der Gedanke, daß diese Kirche bis auf den Boden abge¬
tragen werden muß, zieht das Auge immer wieder auf sie zurück;
sie ist massiver und schwerer in allen ihren Formen, gedrängter und
gedrückter in ihren Bögen, als die Petrikirche, aber sie ist eben so
kolossal und hat in ihrer Unbeholfenheit etwas tief Ergreifendes,
in ihrer moralischen Hinfälligkeit mehr Furchteinflößendes als jene,
die sich besser zum Malen und Beschreiben eignet. Sie scheint das
Mitleid zu verachten und die Hilfe zu verschmähen, die jener geboten
wird; es ist, als fühlte sie's, daß vielleicht an ihrer Stätte fromme
Hände zum letzten Mal zusammenlagen, daß vielleicht hinfort das
profane Leben über Altäre und Heiligenbilder siegen wird. Kein
christlicher Segen hinfort, keine Seelenbeichte, keine fromme Klage,
keine knieende Demuth mehr; statt der Orgeltöne schrille die ferne
Dampfpfeife durch die offnen Fenster, statt des Gesanges andächtiger
Gemeinde das Aechzen rollender Steine, das Dröhnen seufzender
Gräber; statt Himmelfahrt und Frohnleichnamsfest -- lustige Erden¬
fahrten und fröhliche Leichnamseste. Wer weiß, ob nicht nach hun^-
dert Jahren an der Stätte des Gotteshauses ein witziger Gesell


Größe und Einheit und Klarheit am neuen Herd, daß sich kein
böser Geist über die junge Schwelle schleiche!

Die beiden Niesentrümmer harren der neuen Zeit; die Hände
scheinen sich vor ihrer Berührung zu fürchten; wehmüthig ruht das
Auge auf den stummen Tempelresten, über deren offne Wunden die
Stürme hinbrauscn; auf die die Wolken herabweinen. An der
mächtigen Galerie des Nicolai Thurms (sie ist nicht wie Schleiden
sagt, von Holz, sondern von Sandstein) zaust der Wind,
und wirft von Zeit zu Zeit einen Steinblock herab; unheimlich
glitzern in der Abendsonne die spärlichen Neste der Kirchenfenster
im halbgeschmolzenen Gitter; zwischen den wehenden Kupferfetzen,
die wie röthliche Lappen — die Neste der Thurmbedcckung — über
die Galerie hin und her schwanken, reckt sich der offne Rachen der
Gießrinnen biegend hernieder, als lechzten sie nach Kühlung; der
Vollmond zeichnet grell die hohen gothischen Fensterbogen und Ge¬
wölbe auf den düstern Mauergrunv. An der Westseite zieht sich
ein schmaler, bandartiger Streifen von der obersten Brüstung bis aus
die Grundmauer herab, er bezeichnet den Platz, an welchem der Blitz¬
ableiter befestigt war, der in der Gluth abschmolz. Auf der äußer¬
sten Spitze des Mittelstücks steht ein einzelner Pfeiler von der steiner¬
nen Galerie; in der Dämmerung ist's, als wäre es eine Schilowache,
die dort einsam herabspäht, die eisernen Klammern scheinen müde
die bauchigten Mauern noch länger zusammenzuhalten; die Giebel
der Seitenkirchen drohen umzuknicken, und der oberste Mauerkranz lugt
mit seinen offnen Fenstern so sterbemüde und gramschwer herab, daß
man ihm anzusehen glaubt, wie sehnsüchtig er den Einsturz herbei¬
wünscht. Der Gedanke, daß diese Kirche bis auf den Boden abge¬
tragen werden muß, zieht das Auge immer wieder auf sie zurück;
sie ist massiver und schwerer in allen ihren Formen, gedrängter und
gedrückter in ihren Bögen, als die Petrikirche, aber sie ist eben so
kolossal und hat in ihrer Unbeholfenheit etwas tief Ergreifendes,
in ihrer moralischen Hinfälligkeit mehr Furchteinflößendes als jene,
die sich besser zum Malen und Beschreiben eignet. Sie scheint das
Mitleid zu verachten und die Hilfe zu verschmähen, die jener geboten
wird; es ist, als fühlte sie's, daß vielleicht an ihrer Stätte fromme
Hände zum letzten Mal zusammenlagen, daß vielleicht hinfort das
profane Leben über Altäre und Heiligenbilder siegen wird. Kein
christlicher Segen hinfort, keine Seelenbeichte, keine fromme Klage,
keine knieende Demuth mehr; statt der Orgeltöne schrille die ferne
Dampfpfeife durch die offnen Fenster, statt des Gesanges andächtiger
Gemeinde das Aechzen rollender Steine, das Dröhnen seufzender
Gräber; statt Himmelfahrt und Frohnleichnamsfest — lustige Erden¬
fahrten und fröhliche Leichnamseste. Wer weiß, ob nicht nach hun^-
dert Jahren an der Stätte des Gotteshauses ein witziger Gesell


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/590>, abgerufen am 23.07.2024.