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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Bilder aus dem deutschen Universitätsleben
von
Ed. Mulle r.
II.
Göttinger Persönlichkeiten.



An einem grauen Aprilabend hatte ich das Glück, die bekannte,
verhängnißvolle Wehnder Höhe bei Göttingen zu übersteuern, wor¬
auf ich mit brausendem Gespann durch die Ebene hintrieb, in deren
Mitte, von sanften Hügeln malerisch umschlungen, das hannöversche
Athen gelegen ist. Ungesellig ragten die sonderbaren Formen der
Pfarrthürme in die gebrochnen Abendwolken hinein. Je mehr ich
mich dem Thore näherte, desto bunter, getümmelvoller, klirren¬
der, klatschender wurden die Straßen. Mir war der Anblick der
phantastischen Trachten, die jeden englischen Fancydreß hinter sich
lassen, der vielfarbigen Kopfbekleidungen, Bänder und Quasten, der
Abzeichen der Verbindungen oder Corps, nichts Unbekanntes. Mich
überkam jedoch ein Gefühl, als wenn ich einer andern Weltordnung
mich einfügen sollte, sobald ich in die Mitte dieser Fluth, dieses
Hin- und Herziehens, zu Fuß, Gaul und Einspund, gerathen war,
dieses Gewoges, welches in den letzten Tagen vor Anbruch des Semesters
und nach erstem Anzapfen des Wechsels, aus den Thoren der Stu¬
dentenresidenzen zu strömen pflegt. Und freilich war es eine andere
Weltordnung, in die ich trat, das Reich der Jugend, ein neues
Hellas, beherrscht von der Lust des Augenblicks, mehr Spiel als


Bilder aus dem deutschen Universitätsleben
von
Ed. Mulle r.
II.
Göttinger Persönlichkeiten.



An einem grauen Aprilabend hatte ich das Glück, die bekannte,
verhängnißvolle Wehnder Höhe bei Göttingen zu übersteuern, wor¬
auf ich mit brausendem Gespann durch die Ebene hintrieb, in deren
Mitte, von sanften Hügeln malerisch umschlungen, das hannöversche
Athen gelegen ist. Ungesellig ragten die sonderbaren Formen der
Pfarrthürme in die gebrochnen Abendwolken hinein. Je mehr ich
mich dem Thore näherte, desto bunter, getümmelvoller, klirren¬
der, klatschender wurden die Straßen. Mir war der Anblick der
phantastischen Trachten, die jeden englischen Fancydreß hinter sich
lassen, der vielfarbigen Kopfbekleidungen, Bänder und Quasten, der
Abzeichen der Verbindungen oder Corps, nichts Unbekanntes. Mich
überkam jedoch ein Gefühl, als wenn ich einer andern Weltordnung
mich einfügen sollte, sobald ich in die Mitte dieser Fluth, dieses
Hin- und Herziehens, zu Fuß, Gaul und Einspund, gerathen war,
dieses Gewoges, welches in den letzten Tagen vor Anbruch des Semesters
und nach erstem Anzapfen des Wechsels, aus den Thoren der Stu¬
dentenresidenzen zu strömen pflegt. Und freilich war es eine andere
Weltordnung, in die ich trat, das Reich der Jugend, ein neues
Hellas, beherrscht von der Lust des Augenblicks, mehr Spiel als


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[0346] Bilder aus dem deutschen Universitätsleben von Ed. Mulle r. II. Göttinger Persönlichkeiten. An einem grauen Aprilabend hatte ich das Glück, die bekannte, verhängnißvolle Wehnder Höhe bei Göttingen zu übersteuern, wor¬ auf ich mit brausendem Gespann durch die Ebene hintrieb, in deren Mitte, von sanften Hügeln malerisch umschlungen, das hannöversche Athen gelegen ist. Ungesellig ragten die sonderbaren Formen der Pfarrthürme in die gebrochnen Abendwolken hinein. Je mehr ich mich dem Thore näherte, desto bunter, getümmelvoller, klirren¬ der, klatschender wurden die Straßen. Mir war der Anblick der phantastischen Trachten, die jeden englischen Fancydreß hinter sich lassen, der vielfarbigen Kopfbekleidungen, Bänder und Quasten, der Abzeichen der Verbindungen oder Corps, nichts Unbekanntes. Mich überkam jedoch ein Gefühl, als wenn ich einer andern Weltordnung mich einfügen sollte, sobald ich in die Mitte dieser Fluth, dieses Hin- und Herziehens, zu Fuß, Gaul und Einspund, gerathen war, dieses Gewoges, welches in den letzten Tagen vor Anbruch des Semesters und nach erstem Anzapfen des Wechsels, aus den Thoren der Stu¬ dentenresidenzen zu strömen pflegt. Und freilich war es eine andere Weltordnung, in die ich trat, das Reich der Jugend, ein neues Hellas, beherrscht von der Lust des Augenblicks, mehr Spiel als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/346>, abgerufen am 23.07.2024.