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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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ein warmblütiges Lebensbild in kräftigen Zügen vor uns zu sehen? Frei¬
lich, wenn das Lustspiel in solcher Bahn fortschreiten soll, muß zuerst noch
manche ängstliche politische Rücksicht sich lösen, die auch dem dramatischen
Dichter manche freiere Bewegung des Geistes hemmt, und in dieser Hin¬
sicht bescheiden wir uns mit der Hoffnung: der Segen kommt von oben.--
Und so wird auch im ernsten Drama eine neue Tendenz, eine erhöhte mo¬
ralische Wirkung sich zeigen, und der deutsche Cothurnschritt wenigstens
dieselbe Theilnahme gewinnen, die man italienischen Operntakten so bereit¬
willig zollt. Die Kunstrichter lehren zwar, daß bei dramatischen Werken
die Tendenz oder sogenannte moralische Lehre stets eine Vernichtung des
poetischen Geistes sei. In der That lächeln wir wohl über den wackeren
Nürnberger Poeten, der jedes Drama mit dem Spruche schließt: daß gute
Lehre draus erwachs, den treuen Rath giebt dir Hans Sachs. Ja, noch
bei manchen späteren Stücken erinnert die angehängte Moral an den
Schluß jener Kindermord-Geschichte, wo es heißt: drum, hochgeneigtes
Publikum, bring' du keine Kinder um. Wo aber die Tendenz nicht wie
ein Gebrauchszettel bei Parfümerien an das Werk angeheftet ist, sondern
als eine große Gesinnung aus dem Ganzen spricht und athmet, da wird
die Poesie nicht beeinträchtigt werden, sondern vielmehr einen höhern Reiz erhalten.
Und in dieser Beziehung geben wir uns noch immer der so heftig ange¬
fochtenen Meinung hin, daß keine Tendenz für den jetzigen Zeitpunkt förder¬
licher sein könnte, als die vaterländische. Hat nicht ein kleines, in ästhe¬
tischer Hinsicht schwaches Lied, weil es dieser Sympathie sich anschloß, wie
ein Lauffeuer vom Rhein bis zur Ostsee gezündet? Was hindert die dramati¬
schen Dichter, sich auf diese Weise des Schatzes deutscher Geschichte zu be¬
mächtigen, und das Volk mit seiner großen Vorzeit bekannt zu machen?

Man wende nicht ein, daß diese Geschichte verworren, oft ohne Interesse,
ja sogar zuweilen unerfreulich sei; der ächte Genius, der Wasser aus dem
Steine schlagt, wird auch dieser Masse Leben entlocken. Was ist einförmi¬
ger und trauriger, als die Kämpfe der rothen und weißen Rose in Eng¬
land, und wie hat Shakspeare sie lebensvoll darzustellen gewußt! Das
Verworrene wird durch den Geist gelichtet, das Düstere durch die Wehmuth
geadelt. Freilich geht die Bedeutung eines Hamlet, Faust oder Don Car¬
los über nationale Sympathieen weit hinaus; aber gleichwohl knüpfen sich
an den Aufschwung des deutschen Volksgeistes die schönsten Erwartungen für
unsere Bühne. Wenn nicht als Weissagung, lassen Sie uns doch dieses als
freudige Hoffnung aussprechen; und indem wir auf die Größe der deutschen
Vergangenheit hinweisen, gedenken wir zum Schluß noch jener alten, auch
in dieser Hinsicht bedeutungsvollen, Sage von dem verborgenen Schatz im
Kyffhäuserberg.

ein warmblütiges Lebensbild in kräftigen Zügen vor uns zu sehen? Frei¬
lich, wenn das Lustspiel in solcher Bahn fortschreiten soll, muß zuerst noch
manche ängstliche politische Rücksicht sich lösen, die auch dem dramatischen
Dichter manche freiere Bewegung des Geistes hemmt, und in dieser Hin¬
sicht bescheiden wir uns mit der Hoffnung: der Segen kommt von oben.—
Und so wird auch im ernsten Drama eine neue Tendenz, eine erhöhte mo¬
ralische Wirkung sich zeigen, und der deutsche Cothurnschritt wenigstens
dieselbe Theilnahme gewinnen, die man italienischen Operntakten so bereit¬
willig zollt. Die Kunstrichter lehren zwar, daß bei dramatischen Werken
die Tendenz oder sogenannte moralische Lehre stets eine Vernichtung des
poetischen Geistes sei. In der That lächeln wir wohl über den wackeren
Nürnberger Poeten, der jedes Drama mit dem Spruche schließt: daß gute
Lehre draus erwachs, den treuen Rath giebt dir Hans Sachs. Ja, noch
bei manchen späteren Stücken erinnert die angehängte Moral an den
Schluß jener Kindermord-Geschichte, wo es heißt: drum, hochgeneigtes
Publikum, bring' du keine Kinder um. Wo aber die Tendenz nicht wie
ein Gebrauchszettel bei Parfümerien an das Werk angeheftet ist, sondern
als eine große Gesinnung aus dem Ganzen spricht und athmet, da wird
die Poesie nicht beeinträchtigt werden, sondern vielmehr einen höhern Reiz erhalten.
Und in dieser Beziehung geben wir uns noch immer der so heftig ange¬
fochtenen Meinung hin, daß keine Tendenz für den jetzigen Zeitpunkt förder¬
licher sein könnte, als die vaterländische. Hat nicht ein kleines, in ästhe¬
tischer Hinsicht schwaches Lied, weil es dieser Sympathie sich anschloß, wie
ein Lauffeuer vom Rhein bis zur Ostsee gezündet? Was hindert die dramati¬
schen Dichter, sich auf diese Weise des Schatzes deutscher Geschichte zu be¬
mächtigen, und das Volk mit seiner großen Vorzeit bekannt zu machen?

Man wende nicht ein, daß diese Geschichte verworren, oft ohne Interesse,
ja sogar zuweilen unerfreulich sei; der ächte Genius, der Wasser aus dem
Steine schlagt, wird auch dieser Masse Leben entlocken. Was ist einförmi¬
ger und trauriger, als die Kämpfe der rothen und weißen Rose in Eng¬
land, und wie hat Shakspeare sie lebensvoll darzustellen gewußt! Das
Verworrene wird durch den Geist gelichtet, das Düstere durch die Wehmuth
geadelt. Freilich geht die Bedeutung eines Hamlet, Faust oder Don Car¬
los über nationale Sympathieen weit hinaus; aber gleichwohl knüpfen sich
an den Aufschwung des deutschen Volksgeistes die schönsten Erwartungen für
unsere Bühne. Wenn nicht als Weissagung, lassen Sie uns doch dieses als
freudige Hoffnung aussprechen; und indem wir auf die Größe der deutschen
Vergangenheit hinweisen, gedenken wir zum Schluß noch jener alten, auch
in dieser Hinsicht bedeutungsvollen, Sage von dem verborgenen Schatz im
Kyffhäuserberg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/57>, abgerufen am 18.05.2024.