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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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entwirft er folgendes treffende Bild von Frankreichs Lage zur Zeit der Ab¬
dankung des Ministeriums Thiers.

"Ich brauche die edlen Eigenschaften, wodurch sich das französische Volk
auszeichnet, an diesem Orte nicht aufzuzählen. Aber mit lebhafter Einbildungs¬
kraft begabt, immer rasch, zu Extremen geneigt, im Guten und Bösen
übertreibend, tapfer bis zur blinden Tollkühnheit, enthusiastisch bis zum Wahn¬
sinn, eitel und kindisch leichtgläubig wie es ist in Allem, was dieser Na¬
tionaleitelkeit schmeichelt und so immer bereit sich zu allem hinreißen
verwirren und ausbeuten zu lassen von Intriganten jeder
Art und von den lügenhaften Uebertreibungen der Presse
, reibt
sich das französische Volk auf in einer Freiheit, die es bei seiner Leidenschaft¬
lichkeit zu ertragen, unfähig ist. Nur in Frankreich sieht man Wesen die
für vernünftig gelten wollen,*) sich blindlings den Meinungen des einen
oder des andern Journals unterordnen und nur in Frankreich findet man
20 bis 30 Millionen Menschen, die sich knechtisch von 2 oder 300 Jour¬
nalisten gängeln lassen. Sieht man nicht oft genug die ausgezeichnetesten
Männer feig sich krümmen, vor den Götzen einer falschen journalistischen Po¬
pularität? Haben die Journale nicht die Nationalgarde und die Armeen zu
entzünden gesucht und zum Theile wirklich entzündet? . . .

Nein, dieses Frankreich kann auf die Sympathieen der Belgier nicht
zählen . . . Zurückgekehrt in die Anarchie hat es die letzten Bande ge¬
brochen, wodurch es an Belgien geknüpft war. Auch möge man sich die
Ursachen wohl bedenken, aus welchen die momentane Annäherung beider
Volker sich erklären läßt. Es läßt sich nicht läugnen, daß während ihrer
zwanzigjährigen Vereinigung zwischen beiden Völkern zahlreiche Beziehungen
der Zuneigung und der Interessen entstanden sind, aber schon in den letzten
Jahren dieser Vereinigung, hatten die Strenge und die Mißbräuche der
Kaiserzeit diese Bande zu lösen angefangen und ohne die ungeschickten und
unpolitischen Maßregeln der niederländischen Regierung würde Belgien bald
die Vereinigung mit Frankreich vergessen haben. Was that aber die nie¬
derländische Regierung? Sie wollte, durch Beschlüsse, jene Erinne¬
rungen vertilgen, sie wollte Belgien gewissermaßen hollandisiren.
Jemehr sie aber dahin arbeitete, um so lebhafter wurde die Er¬
innerung an Frankreich, was der unvermeidliche Erfolg der Reaction
gegen ungerechte Maßregeln war. Durch die Revolution von 1830,
indem sie die beiden Völker in eine Gemeinschaft der politischen Interessen

*) S. die im 2ten Heft von uns mitgetheilten Bruchstücke aus Alphons Karr's Wespen    A. d. R.

entwirft er folgendes treffende Bild von Frankreichs Lage zur Zeit der Ab¬
dankung des Ministeriums Thiers.

„Ich brauche die edlen Eigenschaften, wodurch sich das französische Volk
auszeichnet, an diesem Orte nicht aufzuzählen. Aber mit lebhafter Einbildungs¬
kraft begabt, immer rasch, zu Extremen geneigt, im Guten und Bösen
übertreibend, tapfer bis zur blinden Tollkühnheit, enthusiastisch bis zum Wahn¬
sinn, eitel und kindisch leichtgläubig wie es ist in Allem, was dieser Na¬
tionaleitelkeit schmeichelt und so immer bereit sich zu allem hinreißen
verwirren und ausbeuten zu lassen von Intriganten jeder
Art und von den lügenhaften Uebertreibungen der Presse
, reibt
sich das französische Volk auf in einer Freiheit, die es bei seiner Leidenschaft¬
lichkeit zu ertragen, unfähig ist. Nur in Frankreich sieht man Wesen die
für vernünftig gelten wollen,*) sich blindlings den Meinungen des einen
oder des andern Journals unterordnen und nur in Frankreich findet man
20 bis 30 Millionen Menschen, die sich knechtisch von 2 oder 300 Jour¬
nalisten gängeln lassen. Sieht man nicht oft genug die ausgezeichnetesten
Männer feig sich krümmen, vor den Götzen einer falschen journalistischen Po¬
pularität? Haben die Journale nicht die Nationalgarde und die Armeen zu
entzünden gesucht und zum Theile wirklich entzündet? . . .

Nein, dieses Frankreich kann auf die Sympathieen der Belgier nicht
zählen . . . Zurückgekehrt in die Anarchie hat es die letzten Bande ge¬
brochen, wodurch es an Belgien geknüpft war. Auch möge man sich die
Ursachen wohl bedenken, aus welchen die momentane Annäherung beider
Volker sich erklären läßt. Es läßt sich nicht läugnen, daß während ihrer
zwanzigjährigen Vereinigung zwischen beiden Völkern zahlreiche Beziehungen
der Zuneigung und der Interessen entstanden sind, aber schon in den letzten
Jahren dieser Vereinigung, hatten die Strenge und die Mißbräuche der
Kaiserzeit diese Bande zu lösen angefangen und ohne die ungeschickten und
unpolitischen Maßregeln der niederländischen Regierung würde Belgien bald
die Vereinigung mit Frankreich vergessen haben. Was that aber die nie¬
derländische Regierung? Sie wollte, durch Beschlüsse, jene Erinne¬
rungen vertilgen, sie wollte Belgien gewissermaßen hollandisiren.
Jemehr sie aber dahin arbeitete, um so lebhafter wurde die Er¬
innerung an Frankreich, was der unvermeidliche Erfolg der Reaction
gegen ungerechte Maßregeln war. Durch die Revolution von 1830,
indem sie die beiden Völker in eine Gemeinschaft der politischen Interessen

*) S. die im 2ten Heft von uns mitgetheilten Bruchstücke aus Alphons Karr's Wespen    A. d. R.
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[237/0245] entwirft er folgendes treffende Bild von Frankreichs Lage zur Zeit der Ab¬ dankung des Ministeriums Thiers. „Ich brauche die edlen Eigenschaften, wodurch sich das französische Volk auszeichnet, an diesem Orte nicht aufzuzählen. Aber mit lebhafter Einbildungs¬ kraft begabt, immer rasch, zu Extremen geneigt, im Guten und Bösen übertreibend, tapfer bis zur blinden Tollkühnheit, enthusiastisch bis zum Wahn¬ sinn, eitel und kindisch leichtgläubig wie es ist in Allem, was dieser Na¬ tionaleitelkeit schmeichelt und so immer bereit sich zu allem hinreißen verwirren und ausbeuten zu lassen von Intriganten jeder Art und von den lügenhaften Uebertreibungen der Presse, reibt sich das französische Volk auf in einer Freiheit, die es bei seiner Leidenschaft¬ lichkeit zu ertragen, unfähig ist. Nur in Frankreich sieht man Wesen die für vernünftig gelten wollen, *) sich blindlings den Meinungen des einen oder des andern Journals unterordnen und nur in Frankreich findet man 20 bis 30 Millionen Menschen, die sich knechtisch von 2 oder 300 Jour¬ nalisten gängeln lassen. Sieht man nicht oft genug die ausgezeichnetesten Männer feig sich krümmen, vor den Götzen einer falschen journalistischen Po¬ pularität? Haben die Journale nicht die Nationalgarde und die Armeen zu entzünden gesucht und zum Theile wirklich entzündet? . . . Nein, dieses Frankreich kann auf die Sympathieen der Belgier nicht zählen . . . Zurückgekehrt in die Anarchie hat es die letzten Bande ge¬ brochen, wodurch es an Belgien geknüpft war. Auch möge man sich die Ursachen wohl bedenken, aus welchen die momentane Annäherung beider Volker sich erklären läßt. Es läßt sich nicht läugnen, daß während ihrer zwanzigjährigen Vereinigung zwischen beiden Völkern zahlreiche Beziehungen der Zuneigung und der Interessen entstanden sind, aber schon in den letzten Jahren dieser Vereinigung, hatten die Strenge und die Mißbräuche der Kaiserzeit diese Bande zu lösen angefangen und ohne die ungeschickten und unpolitischen Maßregeln der niederländischen Regierung würde Belgien bald die Vereinigung mit Frankreich vergessen haben. Was that aber die nie¬ derländische Regierung? Sie wollte, durch Beschlüsse, jene Erinne¬ rungen vertilgen, sie wollte Belgien gewissermaßen hollandisiren. Jemehr sie aber dahin arbeitete, um so lebhafter wurde die Er¬ innerung an Frankreich, was der unvermeidliche Erfolg der Reaction gegen ungerechte Maßregeln war. Durch die Revolution von 1830, indem sie die beiden Völker in eine Gemeinschaft der politischen Interessen *) S. die im 2ten Heft von uns mitgetheilten Bruchstücke aus Alphons Karr's Wespen A. d. R.

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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/245>, abgerufen am 24.11.2024.