und eine Salzwasser-Schamhaftigkeit. Doch man muß jedes Ding von zwei Seiten betrachten. Wenn es auch beim ersten Anblick scheint, daß diese Schamhaftigkeit, die so wüthend in der Seine sich zeigt, etwas Aehnliches mit den Flußfischen hat, welche im Meere ihr Leben aufgeben, so muß man doch bemerken, daß die Frauen in den Seebädern der Keuschheit das größte Opfer bringen, welches je einer Tugend gebracht wurde: sie opfern ihr ihre Schönheit. Man kennt die Geschichte jener christlichen Jungfrau, welche sich die Nase abschnitt, um der Leidenschaft eines römischen Prokonsuls zu ent¬ gehen. Nun wohl, ihr seht in Havre, in Dieppe, in Ostende, dreihundert Frauen, welche tagtäglich diesen vielgerühmten christlichen Zug wiederholen. In ihrem wollenen Costüm, in ihrem Camisol, in ihrem Beinkleid und ih¬ rer Haube aus Wachsleinwand gleichen sie einem Haufen räudiger Aeffchen, welche am Gestade ihre Luftsprünge machen. Genöthigt, sich in Mitte der Männer zu baden, versuchen sie es schlauerweise, sich mit einem Schleier von Häßlichkeit zu umgeben. --
Ein Umstand erhebt Ostende über alle seine Rivale, es sind dieß seine Umgebungen. Man pflegt gewöhnlich, wenn man von Umgebungen einer Stadt spricht, Naturschönheiten zu verstehen, hievon kann nun freilich nicht die Rede sein. In der Nähe des Meeres, gewissermaßen erschreckt und einge¬ schüchtert durch seine gewaltige Schönheit, hat die Erde sich hier alles Schmucks begeben. Flandern ist ein fruchtbarer Garten, aber ein Küchengarten ohne Ziergewächse und abwechselnde Perspectiven. Doch in Mitte dieser reichen und nährenden Fruchtbarkeit hat der Mensch die reichsten Mittel gefunden, sich anzubauen, und was die Natur an Schönheit ihm versagt hat, das trachtete er durch Kunst zu ersetzen. Von Ostende nach dem herrlichen Brügge braucht man nur eine halbe Stunde. Brügge, das Herculanum des Mit¬ telalters, das Pompeji des fünfzehnten Jahrhunderts! Hier, wo wie durch einen Zauberspruch, alles so stehen und liegen geblieben ist, wie zur Zeit, als der Theuerdank hier gefangen saß, und sein treuer Kunz von der Rosen, seine rührenden Schalksstreiche ihm vormachte! Hier, wo der Reisende plötz¬ lich aus dem modernen Leben des neunzehnten Jahrhunderts herausgerissen wird, und mit einem Ruck die Blätter der Zeit um drei Jahrhunderte zu¬ rückgemischt glaubt, und Sitten und Trachten, und Gebäude und Plätze, um sich sieht, deren Dasein er bisher nur in alten Chroniken glaubte, und deren Gestalten er auf alten Bildern mährchenhaft erblickte. Dort öffnet sich die Thüre des wunderlich altspanisch geformten Hauses, eine Gestalt tritt her¬ aus; ist dieses wohl Johann van Eyk, der alte Maler, der zuerst mit Oel¬ farben zu malen verstand und die menschlichen Figuren mit grauen Land¬ schaften und blauem Himmel umgab? Und dort das graue Hospiz -- eine Nonne öffnet das Pförtchen; im Garten wimmelt es von bleichen Genesen¬
und eine Salzwasser-Schamhaftigkeit. Doch man muß jedes Ding von zwei Seiten betrachten. Wenn es auch beim ersten Anblick scheint, daß diese Schamhaftigkeit, die so wüthend in der Seine sich zeigt, etwas Aehnliches mit den Flußfischen hat, welche im Meere ihr Leben aufgeben, so muß man doch bemerken, daß die Frauen in den Seebädern der Keuschheit das größte Opfer bringen, welches je einer Tugend gebracht wurde: sie opfern ihr ihre Schönheit. Man kennt die Geschichte jener christlichen Jungfrau, welche sich die Nase abschnitt, um der Leidenschaft eines römischen Prokonsuls zu ent¬ gehen. Nun wohl, ihr seht in Havre, in Dieppe, in Ostende, dreihundert Frauen, welche tagtäglich diesen vielgerühmten christlichen Zug wiederholen. In ihrem wollenen Costüm, in ihrem Camisol, in ihrem Beinkleid und ih¬ rer Haube aus Wachsleinwand gleichen sie einem Haufen räudiger Aeffchen, welche am Gestade ihre Luftsprünge machen. Genöthigt, sich in Mitte der Männer zu baden, versuchen sie es schlauerweise, sich mit einem Schleier von Häßlichkeit zu umgeben. —
Ein Umstand erhebt Ostende über alle seine Rivale, es sind dieß seine Umgebungen. Man pflegt gewöhnlich, wenn man von Umgebungen einer Stadt spricht, Naturschönheiten zu verstehen, hievon kann nun freilich nicht die Rede sein. In der Nähe des Meeres, gewissermaßen erschreckt und einge¬ schüchtert durch seine gewaltige Schönheit, hat die Erde sich hier alles Schmucks begeben. Flandern ist ein fruchtbarer Garten, aber ein Küchengarten ohne Ziergewächse und abwechselnde Perspectiven. Doch in Mitte dieser reichen und nährenden Fruchtbarkeit hat der Mensch die reichsten Mittel gefunden, sich anzubauen, und was die Natur an Schönheit ihm versagt hat, das trachtete er durch Kunst zu ersetzen. Von Ostende nach dem herrlichen Brügge braucht man nur eine halbe Stunde. Brügge, das Herculanum des Mit¬ telalters, das Pompeji des fünfzehnten Jahrhunderts! Hier, wo wie durch einen Zauberspruch, alles so stehen und liegen geblieben ist, wie zur Zeit, als der Theuerdank hier gefangen saß, und sein treuer Kunz von der Rosen, seine rührenden Schalksstreiche ihm vormachte! Hier, wo der Reisende plötz¬ lich aus dem modernen Leben des neunzehnten Jahrhunderts herausgerissen wird, und mit einem Ruck die Blätter der Zeit um drei Jahrhunderte zu¬ rückgemischt glaubt, und Sitten und Trachten, und Gebäude und Plätze, um sich sieht, deren Dasein er bisher nur in alten Chroniken glaubte, und deren Gestalten er auf alten Bildern mährchenhaft erblickte. Dort öffnet sich die Thüre des wunderlich altspanisch geformten Hauses, eine Gestalt tritt her¬ aus; ist dieses wohl Johann van Eyk, der alte Maler, der zuerst mit Oel¬ farben zu malen verstand und die menschlichen Figuren mit grauen Land¬ schaften und blauem Himmel umgab? Und dort das graue Hospiz — eine Nonne öffnet das Pförtchen; im Garten wimmelt es von bleichen Genesen¬
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und eine Salzwasser-Schamhaftigkeit. Doch man muß jedes Ding von zwei
Seiten betrachten. Wenn es auch beim ersten Anblick scheint, daß diese
Schamhaftigkeit, die so wüthend in der Seine sich zeigt, etwas Aehnliches
mit den Flußfischen hat, welche im Meere ihr Leben aufgeben, so muß man
doch bemerken, daß die Frauen in den Seebädern der Keuschheit das größte
Opfer bringen, welches je einer Tugend gebracht wurde: sie opfern ihr ihre
Schönheit. Man kennt die Geschichte jener christlichen Jungfrau, welche sich
die Nase abschnitt, um der Leidenschaft eines römischen Prokonsuls zu ent¬
gehen. Nun wohl, ihr seht in Havre, in Dieppe, in Ostende, dreihundert
Frauen, welche tagtäglich diesen vielgerühmten christlichen Zug wiederholen.
In ihrem wollenen Costüm, in ihrem Camisol, in ihrem Beinkleid und ih¬
rer Haube aus Wachsleinwand gleichen sie einem Haufen räudiger Aeffchen,
welche am Gestade ihre Luftsprünge machen. Genöthigt, sich in Mitte der
Männer zu baden, versuchen sie es schlauerweise, sich mit einem Schleier von
Häßlichkeit zu umgeben. —
Ein Umstand erhebt Ostende über alle seine Rivale, es sind dieß seine
Umgebungen. Man pflegt gewöhnlich, wenn man von Umgebungen einer
Stadt spricht, Naturschönheiten zu verstehen, hievon kann nun freilich nicht
die Rede sein. In der Nähe des Meeres, gewissermaßen erschreckt und einge¬
schüchtert durch seine gewaltige Schönheit, hat die Erde sich hier alles Schmucks
begeben. Flandern ist ein fruchtbarer Garten, aber ein Küchengarten ohne
Ziergewächse und abwechselnde Perspectiven. Doch in Mitte dieser reichen
und nährenden Fruchtbarkeit hat der Mensch die reichsten Mittel gefunden,
sich anzubauen, und was die Natur an Schönheit ihm versagt hat, das
trachtete er durch Kunst zu ersetzen. Von Ostende nach dem herrlichen Brügge
braucht man nur eine halbe Stunde. Brügge, das Herculanum des Mit¬
telalters, das Pompeji des fünfzehnten Jahrhunderts! Hier, wo wie durch
einen Zauberspruch, alles so stehen und liegen geblieben ist, wie zur Zeit, als
der Theuerdank hier gefangen saß, und sein treuer Kunz von der Rosen,
seine rührenden Schalksstreiche ihm vormachte! Hier, wo der Reisende plötz¬
lich aus dem modernen Leben des neunzehnten Jahrhunderts herausgerissen
wird, und mit einem Ruck die Blätter der Zeit um drei Jahrhunderte zu¬
rückgemischt glaubt, und Sitten und Trachten, und Gebäude und Plätze, um
sich sieht, deren Dasein er bisher nur in alten Chroniken glaubte, und deren
Gestalten er auf alten Bildern mährchenhaft erblickte. Dort öffnet sich die
Thüre des wunderlich altspanisch geformten Hauses, eine Gestalt tritt her¬
aus; ist dieses wohl Johann van Eyk, der alte Maler, der zuerst mit Oel¬
farben zu malen verstand und die menschlichen Figuren mit grauen Land¬
schaften und blauem Himmel umgab? Und dort das graue Hospiz — eine
Nonne öffnet das Pförtchen; im Garten wimmelt es von bleichen Genesen¬
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(2013-11-19T17:23:38Z)
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(2013-11-19T17:23:38Z)
Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/24>, abgerufen am 22.11.2024.
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