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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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sind es, die uns mangeln, aber die moralische Kraft; Schriftsteller und Gelehrte haben wir
genug, was uns fehlt, das sind -- Charactere!

Darum muß das Publikum Menschenalter hindurch es über sich ergehen lassen, von
den Frankfurter Blättern wider Willen zum theilnahmlosen Richteramte in allen Theater¬
kabalen gezwungen zu werden. Truppweis tauchen die ärmlichen Winkelblättchen auf,
welche von diesen Magerkeiten zehren, erregen drei oder vier Scandale, wodurch sie sich
auf einige Tage zum Gegenstande müßigen und höhnischen Geredes machen, und siechen
dann langsam und elend wieder hin. So ist unlängst einer dieser Redacteure zu einem
Kunstgärtner in die Lehre gegangen, und daran hat er wohl gethan und das macht ihm
Ehre. Wer so über das Theater sprechen will, wie es erforderlich ist, um dessen Bezie¬
hungen zum nationalen Leben und zur obwaltenden Geistesrichtung darzustellen, ohne zu¬
gleich das objectiv-künstlerische Moment aus den Augen zu verlieren, der bedarf mehr als
die innere, leicht über Alles hinfließende Autodidaxie der meisten Theaterrecensenten. Von
mehr als bloß dramaturgischem und schön-literarischem Interesse ist es, daß einer der schön¬
sten deutschen Stoffe, ein ächt nationales Thema, die rührende Episode der Agnes Ber¬
nauerin, von einem jungen rheinischen Dichter aus geniale Weise bearbeitet, auf den Bret¬
tern erschienen ist. Dem, der das veraltete gleichnamige Stück kennt, muß es von doppel¬
tem Interesse sein, die jugendliche Frische und wahrhaft dramatische Auffassungsweise von
Ludwig Braunfels kennen zu lernen.

Es liegt nicht in unserem Bereiche, Theaterkritiken zu schreiben, und wir können
uns auf die Details dieser Dichtung nicht einlassen. Die Manifestation, welche durch
die lebhaften Beifallsbezeugungen, und am Schlüsse durch das Hervorrufen des Dich¬
ters, gegeben wurde, mag am lebhaftesten dafür sprechen, daß es sich hier nicht um eine
jener unpraktischen Produktionen handelt, denen der Lebensnerv mangelt, welcher -- man
mag sagen, was man wolle -- das nächste Ziel des Dramatikers sein muß: die Dar¬
stellbarkeit, die Einwirkung auf Ohr und Auge. Die Schaubühne und die Rednerbühne
sind bedeutende Maßstäbe für die politische Stärke eines Volkes. Je vollpulsiger, ein¬
heitlicher, und sich selbst bewußter die Nation ist, um so blitzender seine Redner, um so
schlagender seine Dramen. England und Frankreich sind eben so reich an guten Rednern,
wie an guten Theaterstücken, und kaum hebt sich in neuester Zeit in Deutschland ein hö¬
heres Nationalbewußtsein, so tauchen von allen Seiten die jungen dramatischen Kräfte
auf: Gutzkow, Mosen, Braunfels, Rost, Laube u. s. w. In Berlin werden Reden gehal¬
ten an Welker, an Tiek, bei den Eisenbahneröffnungen werden Reden gehalten, der König,
an den die neuesten deutschen Hoffnungen sich lehnen, tritt selbst als Redner auf. Alles
will zum Volke sprechen, Dichter und Politiker, alles will auf die Masse wirken, und diese
beginnt sich zu fühlen, sie begreift die Wichtigkeit ihrer moralischen Person, und wird er¬
regter, bewußter, kräftiger. Nehmen wir die neuesten Bestrebungen der jungen Dramati¬
ker nicht auf die leichte Achsel, sie sind bedeutend für die deutsche Entwickelung.

C-.


sind es, die uns mangeln, aber die moralische Kraft; Schriftsteller und Gelehrte haben wir
genug, was uns fehlt, das sind — Charactere!

Darum muß das Publikum Menschenalter hindurch es über sich ergehen lassen, von
den Frankfurter Blättern wider Willen zum theilnahmlosen Richteramte in allen Theater¬
kabalen gezwungen zu werden. Truppweis tauchen die ärmlichen Winkelblättchen auf,
welche von diesen Magerkeiten zehren, erregen drei oder vier Scandale, wodurch sie sich
auf einige Tage zum Gegenstande müßigen und höhnischen Geredes machen, und siechen
dann langsam und elend wieder hin. So ist unlängst einer dieser Redacteure zu einem
Kunstgärtner in die Lehre gegangen, und daran hat er wohl gethan und das macht ihm
Ehre. Wer so über das Theater sprechen will, wie es erforderlich ist, um dessen Bezie¬
hungen zum nationalen Leben und zur obwaltenden Geistesrichtung darzustellen, ohne zu¬
gleich das objectiv-künstlerische Moment aus den Augen zu verlieren, der bedarf mehr als
die innere, leicht über Alles hinfließende Autodidaxie der meisten Theaterrecensenten. Von
mehr als bloß dramaturgischem und schön-literarischem Interesse ist es, daß einer der schön¬
sten deutschen Stoffe, ein ächt nationales Thema, die rührende Episode der Agnes Ber¬
nauerin, von einem jungen rheinischen Dichter aus geniale Weise bearbeitet, auf den Bret¬
tern erschienen ist. Dem, der das veraltete gleichnamige Stück kennt, muß es von doppel¬
tem Interesse sein, die jugendliche Frische und wahrhaft dramatische Auffassungsweise von
Ludwig Braunfels kennen zu lernen.

Es liegt nicht in unserem Bereiche, Theaterkritiken zu schreiben, und wir können
uns auf die Details dieser Dichtung nicht einlassen. Die Manifestation, welche durch
die lebhaften Beifallsbezeugungen, und am Schlüsse durch das Hervorrufen des Dich¬
ters, gegeben wurde, mag am lebhaftesten dafür sprechen, daß es sich hier nicht um eine
jener unpraktischen Produktionen handelt, denen der Lebensnerv mangelt, welcher — man
mag sagen, was man wolle — das nächste Ziel des Dramatikers sein muß: die Dar¬
stellbarkeit, die Einwirkung auf Ohr und Auge. Die Schaubühne und die Rednerbühne
sind bedeutende Maßstäbe für die politische Stärke eines Volkes. Je vollpulsiger, ein¬
heitlicher, und sich selbst bewußter die Nation ist, um so blitzender seine Redner, um so
schlagender seine Dramen. England und Frankreich sind eben so reich an guten Rednern,
wie an guten Theaterstücken, und kaum hebt sich in neuester Zeit in Deutschland ein hö¬
heres Nationalbewußtsein, so tauchen von allen Seiten die jungen dramatischen Kräfte
auf: Gutzkow, Mosen, Braunfels, Rost, Laube u. s. w. In Berlin werden Reden gehal¬
ten an Welker, an Tiek, bei den Eisenbahneröffnungen werden Reden gehalten, der König,
an den die neuesten deutschen Hoffnungen sich lehnen, tritt selbst als Redner auf. Alles
will zum Volke sprechen, Dichter und Politiker, alles will auf die Masse wirken, und diese
beginnt sich zu fühlen, sie begreift die Wichtigkeit ihrer moralischen Person, und wird er¬
regter, bewußter, kräftiger. Nehmen wir die neuesten Bestrebungen der jungen Dramati¬
ker nicht auf die leichte Achsel, sie sind bedeutend für die deutsche Entwickelung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/107>, abgerufen am 22.11.2024.