Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung.


A. Ableitung des Begriffs der reinen Mathematik.

1. Die oberste Theilung aller Wissenschaften ist die in reale
und formale, von denen die ersteren das Sein, als das dem Denken
selbstständig gegenübertretende, im Denken abbilden, und ihre
Wahrheit haben in der Uebereinstimmung des Denkens mit jenem
Sein; die letzteren hingegen das durch das Denken selbst gesetzte
zum Gegenstande haben, und ihre Wahrheit haben in der Ueber-
einstimmung der Denkprocesse unter sich.

Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt
und durch das Denken abgebildet wird; aber dies Sein ist bei den
realen Wissenschaften ein selbstständiges, ausserhalb des Denkens
für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das
Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte
als Sein sich gegenüberstellt. Wenn nun die Wahrheit überhaupt
in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein beruht, so
beruht sie insbesondere bei den formalen Wissenschaften in der
Uebereinstimmung des zweiten Denkaktes mit dem durch den ersten
gesetzten Sein, also in der Uebereinstimmung beider Denkakte.
Der Beweis in den formalen Wissenschaften geht daher nicht über
das Denken selbst hinaus in eine andere Sphäre über, sondern ver-
harrt rein in der Kombination der verschiedenen Denkakte. Daher
dürfen auch die formalen Wissenschaften nicht von Grundsätzen
aus gehen, wie die realen; sondern ihre Grundlage bilden die
Definitionen *).

*) Wenn man in die formalen Wissenschaften, wie z. B. in die Arithmetik,
dennoch Grundsätze eingeführt hat, so ist dies als ein Missbrauch anzusehen, der
nur aus der entsprechenden Behandlung der Geometrie zu erklären ist. Ich
Einleitung.


A. Ableitung des Begriffs der reinen Mathematik.

1. Die oberste Theilung aller Wissenschaften ist die in reale
und formale, von denen die ersteren das Sein, als das dem Denken
selbstständig gegenübertretende, im Denken abbilden, und ihre
Wahrheit haben in der Uebereinstimmung des Denkens mit jenem
Sein; die letzteren hingegen das durch das Denken selbst gesetzte
zum Gegenstande haben, und ihre Wahrheit haben in der Ueber-
einstimmung der Denkprocesse unter sich.

Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt
und durch das Denken abgebildet wird; aber dies Sein ist bei den
realen Wissenschaften ein selbstständiges, ausserhalb des Denkens
für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das
Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte
als Sein sich gegenüberstellt. Wenn nun die Wahrheit überhaupt
in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein beruht, so
beruht sie insbesondere bei den formalen Wissenschaften in der
Uebereinstimmung des zweiten Denkaktes mit dem durch den ersten
gesetzten Sein, also in der Uebereinstimmung beider Denkakte.
Der Beweis in den formalen Wissenschaften geht daher nicht über
das Denken selbst hinaus in eine andere Sphäre über, sondern ver-
harrt rein in der Kombination der verschiedenen Denkakte. Daher
dürfen auch die formalen Wissenschaften nicht von Grundsätzen
aus gehen, wie die realen; sondern ihre Grundlage bilden die
Definitionen *).

*) Wenn man in die formalen Wissenschaften, wie z. B. in die Arithmetik,
dennoch Grundsätze eingeführt hat, so ist dies als ein Missbrauch anzusehen, der
nur aus der entsprechenden Behandlung der Geometrie zu erklären ist. Ich
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0023" n="[XIX]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Einleitung.</hi> </hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">A. <hi rendition="#g">Ableitung des Begriffs der reinen Mathematik.</hi></hi> </head><lb/>
          <p>1. Die oberste Theilung aller Wissenschaften ist die in reale<lb/>
und formale, von denen die ersteren das Sein, als das dem Denken<lb/>
selbstständig gegenübertretende, im Denken abbilden, und ihre<lb/>
Wahrheit haben in der Uebereinstimmung des Denkens mit jenem<lb/>
Sein; die letzteren hingegen das durch das Denken selbst gesetzte<lb/>
zum Gegenstande haben, und ihre Wahrheit haben in der Ueber-<lb/>
einstimmung der Denkprocesse unter sich.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt<lb/>
und durch das Denken abgebildet wird; aber dies Sein ist bei den<lb/>
realen Wissenschaften ein selbstständiges, ausserhalb des Denkens<lb/>
für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das<lb/>
Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte<lb/>
als Sein sich gegenüberstellt. Wenn nun die Wahrheit überhaupt<lb/>
in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein beruht, so<lb/>
beruht sie insbesondere bei den formalen Wissenschaften in der<lb/>
Uebereinstimmung des zweiten Denkaktes mit dem durch den ersten<lb/>
gesetzten Sein, also in der Uebereinstimmung beider Denkakte.<lb/>
Der Beweis in den formalen Wissenschaften geht daher nicht über<lb/>
das Denken selbst hinaus in eine andere Sphäre über, sondern ver-<lb/>
harrt rein in der Kombination der verschiedenen Denkakte. Daher<lb/>
dürfen auch die formalen Wissenschaften nicht von Grundsätzen<lb/>
aus gehen, wie die realen; sondern ihre Grundlage bilden die<lb/>
Definitionen <note xml:id="a9" next="#b9" place="foot" n="*)">Wenn man in die formalen Wissenschaften, wie z. B. in die Arithmetik,<lb/>
dennoch Grundsätze eingeführt hat, so ist dies als ein Missbrauch anzusehen, der<lb/>
nur aus der entsprechenden Behandlung der Geometrie zu erklären ist. Ich</note>.</hi> </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[[XIX]/0023] Einleitung. A. Ableitung des Begriffs der reinen Mathematik. 1. Die oberste Theilung aller Wissenschaften ist die in reale und formale, von denen die ersteren das Sein, als das dem Denken selbstständig gegenübertretende, im Denken abbilden, und ihre Wahrheit haben in der Uebereinstimmung des Denkens mit jenem Sein; die letzteren hingegen das durch das Denken selbst gesetzte zum Gegenstande haben, und ihre Wahrheit haben in der Ueber- einstimmung der Denkprocesse unter sich. Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt und durch das Denken abgebildet wird; aber dies Sein ist bei den realen Wissenschaften ein selbstständiges, ausserhalb des Denkens für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte als Sein sich gegenüberstellt. Wenn nun die Wahrheit überhaupt in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein beruht, so beruht sie insbesondere bei den formalen Wissenschaften in der Uebereinstimmung des zweiten Denkaktes mit dem durch den ersten gesetzten Sein, also in der Uebereinstimmung beider Denkakte. Der Beweis in den formalen Wissenschaften geht daher nicht über das Denken selbst hinaus in eine andere Sphäre über, sondern ver- harrt rein in der Kombination der verschiedenen Denkakte. Daher dürfen auch die formalen Wissenschaften nicht von Grundsätzen aus gehen, wie die realen; sondern ihre Grundlage bilden die Definitionen *). *) Wenn man in die formalen Wissenschaften, wie z. B. in die Arithmetik, dennoch Grundsätze eingeführt hat, so ist dies als ein Missbrauch anzusehen, der nur aus der entsprechenden Behandlung der Geometrie zu erklären ist. Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/23
Zitationshilfe: Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. [XIX]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/23>, abgerufen am 22.11.2024.