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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das I. Cap. Vom Ursprunge
Langsamkeit der Aussprache verlängerte die kurtzen, so daß
sie sich schon zur Melodie schicketen. Wir können uns dieses
noch heute zu Tage an alten geistlichen Gesängen, imgleichen
an den Liedern der Bergleute vorstellen; die es auch so genau
nicht nehmen, und die Zeilen ihrer Verße gleichsam nur mit
einem Höltzchen abzumessen pflegen.

Solche Lieder wird man nun gesungen haben, als Jubal
allerley Musicalische Jnstrumente erfunden, und als Laban
dem Jacob sagte, daß er ihn mit Freuden, mit Singen, mit
Paucken und Harfen hätte begleiten wollen. Dergleichen
Lieder hat Mirjam, Moses, und nachmahls Debora gesun-
gen. Dergleichen Lieder haben David, Assaph, Salomo,
Jeremias und viele andre gedichtet: Ja die gantze Hebreische
Poesie weiß von keinen andern: so daß es lächerlich ist, wenn
Josephus schreibet, das Buch Hiob fey in Hexametris ge-
schrieben. Jn solchen Verßen hat auch ohne Zweifel Am-
phion, Orpheus und Linus in Griechenland noch gesungen,
die doch so grossen Ruhm mit ihrer Dicht-Kunst erlanget.
Solcher Art sind auch die alten Salischen Lieder bey den Rö-
mern gewesen, die Numa eingeführt. Kurtz, so sind die Poe-
sien der allerältesten Völcker in der gantzen Welt beschaffen
gewesen. Und wenn sie sich von der ungebundenen Rede noch
in sonst was unterschieden; so muß es bloß in den erhabenen
Gedancken und dem edlen Ausdrucke derselben, in prächtigen
Figuren, Fabeln, Gleichnissen und schönen Redens-Arten
gesucht werden: wie solches aus der Morgenländischen Poesie
sonderlich zu ersehen ist. Ein Poet aber und ein Musicus,
war damahls einerley, weil die Sänger sich ihre Lieder selbst
machten, und die Dichter die ihrigen selbst sungen. Daher
kommt denn nachmahls die Gewohnheit, daß die Poeten ihre
Leyren, Cithern, Seyten, Flöten und Schalmeyen immer
anreden, wenn sie gleich nicht spielen können. Weil nehm-
lich die Alten beydes zugleich konnten, so bleiben die Neuern
noch bey der Sprache ihrer Vorgänger, und entschuldigen
sich gemeiniglich mit einer tropischen Redens-Art, die uns er-
laubt das Adjunctum an statt des Subjecti zu setzen.

Mit

Das I. Cap. Vom Urſprunge
Langſamkeit der Ausſprache verlaͤngerte die kurtzen, ſo daß
ſie ſich ſchon zur Melodie ſchicketen. Wir koͤnnen uns dieſes
noch heute zu Tage an alten geiſtlichen Geſaͤngen, imgleichen
an den Liedern der Bergleute vorſtellen; die es auch ſo genau
nicht nehmen, und die Zeilen ihrer Verße gleichſam nur mit
einem Hoͤltzchen abzumeſſen pflegen.

Solche Lieder wird man nun geſungen haben, als Jubal
allerley Muſicaliſche Jnſtrumente erfunden, und als Laban
dem Jacob ſagte, daß er ihn mit Freuden, mit Singen, mit
Paucken und Harfen haͤtte begleiten wollen. Dergleichen
Lieder hat Mirjam, Moſes, und nachmahls Debora geſun-
gen. Dergleichen Lieder haben David, Aſſaph, Salomo,
Jeremias und viele andre gedichtet: Ja die gantze Hebreiſche
Poeſie weiß von keinen andern: ſo daß es laͤcherlich iſt, wenn
Joſephus ſchreibet, das Buch Hiob fey in Hexametris ge-
ſchrieben. Jn ſolchen Verßen hat auch ohne Zweifel Am-
phion, Orpheus und Linus in Griechenland noch geſungen,
die doch ſo groſſen Ruhm mit ihrer Dicht-Kunſt erlanget.
Solcher Art ſind auch die alten Saliſchen Lieder bey den Roͤ-
mern geweſen, die Numa eingefuͤhrt. Kurtz, ſo ſind die Poe-
ſien der alleraͤlteſten Voͤlcker in der gantzen Welt beſchaffen
geweſen. Und wenn ſie ſich von der ungebundenen Rede noch
in ſonſt was unterſchieden; ſo muß es bloß in den erhabenen
Gedancken und dem edlen Ausdrucke derſelben, in praͤchtigen
Figuren, Fabeln, Gleichniſſen und ſchoͤnen Redens-Arten
geſucht werden: wie ſolches aus der Morgenlaͤndiſchen Poeſie
ſonderlich zu erſehen iſt. Ein Poet aber und ein Muſicus,
war damahls einerley, weil die Saͤnger ſich ihre Lieder ſelbſt
machten, und die Dichter die ihrigen ſelbſt ſungen. Daher
kommt denn nachmahls die Gewohnheit, daß die Poeten ihre
Leyren, Cithern, Seyten, Floͤten und Schalmeyen immer
anreden, wenn ſie gleich nicht ſpielen koͤnnen. Weil nehm-
lich die Alten beydes zugleich konnten, ſo bleiben die Neuern
noch bey der Sprache ihrer Vorgaͤnger, und entſchuldigen
ſich gemeiniglich mit einer tropiſchen Redens-Art, die uns er-
laubt das Adjunctum an ſtatt des Subjecti zu ſetzen.

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[62/0090] Das I. Cap. Vom Urſprunge Langſamkeit der Ausſprache verlaͤngerte die kurtzen, ſo daß ſie ſich ſchon zur Melodie ſchicketen. Wir koͤnnen uns dieſes noch heute zu Tage an alten geiſtlichen Geſaͤngen, imgleichen an den Liedern der Bergleute vorſtellen; die es auch ſo genau nicht nehmen, und die Zeilen ihrer Verße gleichſam nur mit einem Hoͤltzchen abzumeſſen pflegen. Solche Lieder wird man nun geſungen haben, als Jubal allerley Muſicaliſche Jnſtrumente erfunden, und als Laban dem Jacob ſagte, daß er ihn mit Freuden, mit Singen, mit Paucken und Harfen haͤtte begleiten wollen. Dergleichen Lieder hat Mirjam, Moſes, und nachmahls Debora geſun- gen. Dergleichen Lieder haben David, Aſſaph, Salomo, Jeremias und viele andre gedichtet: Ja die gantze Hebreiſche Poeſie weiß von keinen andern: ſo daß es laͤcherlich iſt, wenn Joſephus ſchreibet, das Buch Hiob fey in Hexametris ge- ſchrieben. Jn ſolchen Verßen hat auch ohne Zweifel Am- phion, Orpheus und Linus in Griechenland noch geſungen, die doch ſo groſſen Ruhm mit ihrer Dicht-Kunſt erlanget. Solcher Art ſind auch die alten Saliſchen Lieder bey den Roͤ- mern geweſen, die Numa eingefuͤhrt. Kurtz, ſo ſind die Poe- ſien der alleraͤlteſten Voͤlcker in der gantzen Welt beſchaffen geweſen. Und wenn ſie ſich von der ungebundenen Rede noch in ſonſt was unterſchieden; ſo muß es bloß in den erhabenen Gedancken und dem edlen Ausdrucke derſelben, in praͤchtigen Figuren, Fabeln, Gleichniſſen und ſchoͤnen Redens-Arten geſucht werden: wie ſolches aus der Morgenlaͤndiſchen Poeſie ſonderlich zu erſehen iſt. Ein Poet aber und ein Muſicus, war damahls einerley, weil die Saͤnger ſich ihre Lieder ſelbſt machten, und die Dichter die ihrigen ſelbſt ſungen. Daher kommt denn nachmahls die Gewohnheit, daß die Poeten ihre Leyren, Cithern, Seyten, Floͤten und Schalmeyen immer anreden, wenn ſie gleich nicht ſpielen koͤnnen. Weil nehm- lich die Alten beydes zugleich konnten, ſo bleiben die Neuern noch bey der Sprache ihrer Vorgaͤnger, und entſchuldigen ſich gemeiniglich mit einer tropiſchen Redens-Art, die uns er- laubt das Adjunctum an ſtatt des Subjecti zu ſetzen. Mit

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/90>, abgerufen am 24.11.2024.